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Kopftuch


Kopftuchgemeinde, so nennt man etwas despektierlich (meist freikirchliche) christliche Gemeinden, in deren Versammlungen die Frauen ein Kopftuch tragen müssen (und manchmal die Männer einen Vollbart). Als Lutheraner hielt ich das immer für ein Kuriosum: Festhalten an einer antiken Bekleidungssitte im 20. Jh. Woher kommt diese Sitte? Warum ist sie manchen evangelikalen Gemeinden so wichtig, dass sie sie immer noch praktizieren? Warum haben die großen Kirchen bei uns dieselbe aufgegeben?

Der Schuldige ist wieder mal Paulus. In 1Kor 11,3-16 gibt er eine ausführliche, aber uns etwas verworren anmutende Argumentation. Wir verstehen, was der Apostel will, aber nicht recht, warum. Dazu kommt aber, dass manche (hauptsächlich evangelikalen) Ausleger einerseits nicht zugeben können, dass etwas, was im NT steht, nicht mehr gilt oder gar, dass sich der Apostel geirrt hat, dass sie aber andererseits auch nicht die Zeit zurückdrehen und die Unterordnung der Frau, die Sklaverei oder den römischen Kaiser wieder einführen wollen. Daher werfen sie eine zunehmende Zahl von exegetischen Nebelgranaten, um zur Schlussfolgerung kommen zu können: das ist gar nicht gemeint, das fordert Paulus gar nicht (vgl. z.B. auch Darf eine Frau lehren?).

Ich habe mich immer als Evangelikalen betrachet. Aber bei diesem Thema stehe ich offenbar mit beiden Beinen im liberalen Lager (nicht im feministischen, denn Feminismus ist eine selbst mit liberaler Bibelauslegung unvereinbare Ideologie). Wer also Probleme mit dieser Sichtweise hat, möge sich die weitere Lektüre dieser Seite ersparen. Wer trotzdem weiterliest, ist gewarnt worden.

V. 2.

Farblich hervorgehoben sind im folgenden alleinstehendes δέ „aber“, μέν – δέ „(zwar) – aber“, οὐ(κ) – ἀλλά „nicht – sondern“, γάρ „denn, nämlich“. Häufiges δέ zur Weiterführung des Gedankens ist normal und stilistisch unauffällig. Sechsmaliges γάρ innerhalb weniger Verse ist schon auffällig. Paulus fühlt, scheint's, dass für sein Anliegen Erklärungsbedarf besteht.

2 Ἐπαινῶ δὲ ὑμᾶς ὅτι πάντα μου μέμνησθε καὶ καθὼς παρέδωκα ὑμῖν τὰς παραδόσεις κατέχετε. Ich lobe euch (dafür), dass ihr in allem meiner gedenkt und die Überlieferungen, wie ich (sie) euch überliefert habe, festhaltet.

Eine captatio benevolentiae, ein Lob, damit die folgende Kritik leichter zu schlucken ist. Dieser Vers ist Wallaces Hauptargument für das Festhalten am Kopftuch: es sei nicht nur „Gewohnheit, Sitte“ wie in V.16 gesagt, sondern Teil der verbindlichen Überlieferungen des Paulus.

V. 3-5

3 Θέλω δὲ ὑμᾶς εἰδέναι ὅτι παντὸς ἀνδρὸς ἡ κεφαλὴ ὁ Χριστός ἐστιν, κεφαλὴ δὲ γυναικὸς ὁ ἀνήρ, κεφαλὴ δὲ τοῦ Χριστοῦ ὁ θεός. Ich will aber, dass ihr wisst, dass eines jeden Mannes Haupt Christus ist, Haupt einer Frau der Mann, Haupt Christi Gott.
4 πᾶς ἀνὴρ προσευχόμενος ἢ προφητεύων κατὰ κεφαλῆς ἔχων καταισχύνει τὴν κεφαλὴν αὐτοῦ. Jeder Mann, der betet oder prophezeit „auf das Haupt herab habend“ (d.h. mit bedecktem Kopf), entehrt sein Haupt.
5 πᾶσα δὲ γυνὴ προσευχομένη ἢ προφητεύουσα ἀκατακαλύπτῳ τῇ κεφαλῇ καταισχύνει τὴν κεφαλὴν αὐτῆς· ἓν γάρ ἐστιν καὶ τὸ αὐτὸ τῇ ἐξυρημένῃ. Jede Frau aber, die betet oder prophezeit mit unbedecktem Haupt, entehrt ihr Haupt; denn es ist ein und dasselbe wie bei der Geschorenen.

Kopf einer Karyatide („Frau aus Karyai“) des Erechtheions (letztes Viertel des 5. Jh. v. Chr.) von hinten, Akropolismuseum Athen, 2016.

Häusliche Szene? Eine Frau mit Kopftuch, eine ohne (Sklavin?), ein Kind liest etwas vor; Ausschnitt aus dem sog. Mysterien­fresko (1. Jh. v.Chr.), Villa dei Misteri in Pompeji, 2019.

Etwas rätselhaft scheint der Ausdruck κατὰ κεφαλῆς ἔχων „auf das Haupt herab habend“ = mit verhülltem Haupt. Aber er entspricht relativ genau einer Passage bei Plutarch, wo erzählt wird, dass, nachdem Scipio der Jüngere in Alexandria von Bord gegangen war, ἐβάδιζε κατὰ τῆς κεφαλῆς ἔχων τὸ ἱμάτιον „er ging, die Toga auf das Haupt herab habend“ (um unerkannt zu bleiben), die Alexandriner ἠξίουν ἀποκαλύψασθαι […] καὶ δεῖξαι […] τὸ πρόσωπον „(sie) forderten [von ihm], sich zu enthüllen […] und das Gesicht zu zeigen“ (Plut. mor. 200F). Paulus hat lediglich das Objekt weggelassen.

Paulus gebraucht das Wort κεφαλή kephalḗ hier in zwei unterschiedlichen Bedeutungen: a) „Oberhaupt“, b) „Kopf“ (insbes. dessen behaarter Teil). Fee versucht erstere Bedeutung von kephalḗ in Zweifel zu ziehen (S. 502f), mit dem Argument, dass diese Metapher im klass. Griech. nicht vorkommt. Vielmehr sei hier die metaphorische Bedeutung „Quelle, Ursprung“ zu verstehen (die das Wörterbuch von Bauer für das NT überhaupt nicht kennt).

Aber hier handelt es sich um ntl. Griech., und da ist der Sprachgebrauch der LXX mit in Rechnung zu stellen, die die Metapher „Oberhaupt“ sehr wohl kennt (z.B. Ri 11,8 [A]. 11 [A+B]; 2Sam 22,44; Jes 7,8. 9). Vermutlich hat Paulus sie um des Wortspiels willen gewählt. Und sie ist hier nicht singulär, sondern findet sich auch sonst in den Paulinen: Eph 1,22; 4,15 (hier mit Einbeziehung von „Leib“ und „Gelenken“); 5,23 (im Kontext, dass die Frauen sich den (Ehe-)Männer unterordnen sollen!); Kol 1,18 (Haupt des Leibes, der Gemeinde); 2,10. 19. Hier überall die Metapher „Quelle, Ursprung“ anzunehmen, erfordert interpretatorische Kontorsionistik. Und was soll „eines jeden Mannes Quelle/ Ursprung ist Christus“ überhaupt bedeuten? In welcher Weise ist Gott der Ursprung Christi? Was hat das mit dem Bedecken des Kopfes zu tun? Hier ist offenbar der evangelikale Wunsch Vater des Gedankens.

Unverständlicherweise windet sich auch Schlier, die Dinge beim Namen zu nennen, wenn er sagt (S. 678): „κεφαλή meint den, der über dem anderen in dem Sinne steht, daß er sein Sein begründet. Paulus könnte auch ἀρχή sagen, wenn nicht die Beziehung auf Personen κεφαλή näher legte.“ Das ist nur bedingt hilfreich, denn ἀρχή arkhḗ bedeutet „Anfang, Ursprung, Ursache“ und „Herrschaft, Oberbefehl, Obrigkeit“.

Paulus beginnt mit einer (für ihn heilsgeschichtlich vorgegebenen) Hierarchie: Gott – Christus – Mann – Frau. Dass Gott das Haupt Christi ist, sagt Paulus implizit auch andernorts (z.B. 1Kor 3,21: „ihr (seid) Christi, Christus (ist) Gottes“). Es überrascht allerdings, dass Christus nicht auch das Haupt der (gläubigen) Frau ist. Dass der Mann das Haupt der Frau ist, ist wohl jüdische Denktradition, die weiter unten aus dem sog. zweiten Schöpfungsbericht (Gen 2) heraus begründet wird, und die auch Paulus nicht in Frage stellt. Dabei geht es nicht um das Verhältnis in der Ehe, sondern um die gesellschaftliche Stellung der Frau ganz allgemein. Die durchschnittliche Frau steht im Judentum und auch im Griechentum von der Wiege bis zur Bahre immer unter männlicher Kuratel. Paulus erachtet diese Hierarchie nicht als historische Akzidenz, sondern als gottgewollte Universalie.

Auch wenn man diese Hierarchie nicht als Herrschaftsverhältnis, sondern als ein irgendwie geartetes Seinsverhältnis deuten möchte, bleibt das Faktum der untergeordneten gesellschaftlichen Stellung der Frau bestehen. Und es ist schwer glaubhaft, dass Paulus das nicht mitgemeint haben soll.

Was wird also entehrt, wenn eine Frau ohne Kopfbedeckung betet? Ihr Oberhaupt, also der Mann? Oder ihr Schädel? Vermutlich ist ersteres gemeint. (Oder beides?) Aber wieso das entehrend sein soll, ist völlig unklar. Wieso das dasselbe sein soll, wie wenn die Frau geschoren wäre, ist völlig unklar. Weil die Frau dann nicht nur hinsichtlich der (fehlenden) Kopfbedeckung, sondern auch hinsichtlich der Haarlänge dem Mann gleich wäre? Als neuzeitlicher Leser schüttelt man etwas verständnislos sein Haupt.

V. 6

6 εἰ γὰρ οὐ κατακαλύπτεται γυνή, καὶ κειράσθω· εἰ δὲ αἰσχρὸν γυναικὶ τὸ κείρασθαι ἢ ξυρᾶσθαι, κατακαλυπτέσθω. Denn wenn eine Frau sich nicht bedeckt, soll sie sich auch die Haare abschneiden; wenn es aber für eine Frau schändlich ist, wenn sie sich die Haare abschneidet oder sie geschoren wird, soll sie sich bedecken.

Grabrelief, das Krito und ihre verstorbene Mutter Timarista darstellt (420-410 v.Chr.). Die Mutter trägt eine Kopfbedeckung, die barhäuptige Tochter offenbar eine Kurzhaarfrisur (als Zeichen der Trauer?). Archäo­logisches Museum Rhodos, 2023.

Das Abschneiden/Scheren der Haare war einerseits ein Trauerbrauch (s. z.B. Hi 1,20, Mi 1,16, Jes 15,2 u.ö.). Andererseits war es speziell bei Frauen eine Strafe z.B. für Ehebruch (aber auch andere Vergehen, vgl. Aristoph. Thesm. 838). Paulus ist der Meinung, es sei für Frauen genauso schimpflich oder beschämend (αἰσχρόν aiskhrón), mit unbedecktem Kopf in der Gemeindeversammlung zu erscheinen wie kurz geschnittenes (κείρω keírō „scheren, abschneiden“ [mit der Schere]) oder geschorenes (ξυρέω/-άω xyréō/-áō „scheren, rasieren“ [mit dem Messer]) Haar zu tragen. Wieso, wird nicht erklärt. Unnötige Polemik, die nichts zum Verständnis der Sache beiträgt.

V. 7-10

7 ἀνὴρ μὲν γὰρ οὐκ ὀφείλει κατακαλύπτεσθαι τὴν κεφαλήν, εἰκὼν καὶ δόξα θεοῦ ὑπάρχων· ἡ γυνὴ δὲ δόξα ἀνδρός ἐστιν. Denn ein Mann soll sich das Haupt nicht bedecken, da er Bild und Ehre Gottes ist; die Frau aber ist Ehre eines Mannes.
8 οὐ γάρ ἐστιν ἀνὴρ ἐκ γυναικός, ἀλλὰ γυνὴ ἐξ ἀνδρός· Denn nicht ist (der) Mann von (der) Frau her, sondern (die) Frau von (dem) Mann her.
9 καὶ γὰρ οὐκ ἐκτίσθη ἀνὴρ διὰ τὴν γυναῖκα, ἀλλὰ γυνὴ διὰ τὸν ἄνδρα. (Der) Mann wurde ja auch nicht geschaffen wegen der Frau, sondern (die) Frau wegen des Mannes.
10 διὰ τοῦτο ὀφείλει ἡ γυνὴ ἐξουσίαν ἔχειν ἐπὶ τῆς κεφαλῆς διὰ τοὺς ἀγγέλους. Deshalb soll die Frau eine Vollmacht auf dem Haupt haben, wegen der Engel.

Für „soll“ steht in V.7a und V.10 genaugenommen „er/sie ist es schuldig, ist [moralisch] verpflichtet“.

Fee übersetzt V.10 „the woman ought to have authority over her (own) head“ (S. 494 et passim). Zwar ist ἐξουσία ἐπί + Gen. im Sinne von „Vollmacht über etw.“ durchaus möglich, kommt aber außer viermal in der Offb im NT nicht vor (s. Stellenbelege bei Foerster). Und vor allem passt es nicht in den Kontext, denn es steht in glattem Widerspruch zum soeben Gesagten, wie auch Fee zugibt. Wieso das dann trotzdem die beste Verständnismöglichkeit sein soll, erschließt sich mir nicht.

Zur Begründung wird also nun Schöpfungstheologie bemüht, aus der die Vorordnung des Mannes vor der Frau herausgelesen wird (Gen 2,18-23). Obwohl Gen 1,27 etwas anderes sagt. Der schöpfungsgemäße Unterschied zwischen Mann und Frau wird in V.7 so gesehen: der Mann ist Gottes Bild und Ehre, die Frau ist (auch Gottes Bild, aber) des Mannes Ehre. Damit soll vermutlich gesagt werden, dass ein Mann mit seinem Dasein Gott zur Ehre gereichen soll, eine Frau aber soll dem Mann (unter dessen Kuratel sie steht) zur Ehre gereichen. (Gottes Ebenbild sind sie beide.) Deutsche Übersetzer und Ausleger halten δόξα dóxa „Ehre, Herrlichkeit“ hier offenbar für ein Synonym für εἰκών eikṓn „Bild“ und übersetzen es mit „Abglanz“ oder „Abbild“ (Conzelmann S. 227) (engl. Übersetzungen haben üblicherweise „glory“). Aber das stünde dann doch im Widerspruch zu Gen 1,27; und es ist doch kein Zufall, dass die Frau nicht auch als eikṓn des Mannes bezeichnet wird.

Dieses (Hierarchie-)Verhältnis zwischen Mann und Frau soll auch in der Gemeindeversammlung (das ist wohl mit „beten oder prophezeien“ gemeint) durch die Einhaltung einer Kleiderordnung respektiert werden. Warum dazu Männer unbedeckten Hauptes, Frauen aber mit Kopfbedeckung sein sollten, bleibt unerklärt. Es ist wohl jüdisch-palästinische Praxis, die Paulus auch in christliche Gemeinden eingeführt hat und die er auch respektiert wissen will.

Rätselhaft ist V.10: Wieso ist eine Kopfbedeckung eine ἐξουσία exousía „Erlaubnis, Befugnis, Vollmacht, Ermächtigung“ zum Beten in der Gemeindeversammlung? Und was haben die Engel damit zu tun? Der Vers will vermutlich besagen, dass die Frau als Zeichen der Anerkennung der Vollmacht des Mannes über sie, d.h. der Anerkennung ihres hierarchisch untergeordneten Status als Frau, eine Kopfbedeckung tragen soll. Marlowe drückt es beschönigend so aus: „Therefore let a woman stand before God with a sign of her womanhood, not as a generic and sexless individual.“ Allerdings dehnt das Verständnis „Zeichen der Unterordnung unter die Vollmacht (eines anderen)“ die Bedeutungsmöglichkeiten von ἐξουσία exousía über Gebühr. Vielleicht war exousía ein Schlagwort der gnostisch inspirierten „Frauenbefreiung“ in Korinth. Vgl. dazu auch 1Kor 8,9: „Seht zu, dass nicht diese eure exousía (Erlaubnis, Vollmacht) den Schwachen ein Anstoß wird.“; 1Kor 10,23: „»Alles ist erlaubt« (éxestin) – aber nicht alles nützt. »Alles ist erlaubt« – aber nicht alles baut auf.«“ (exousía kommt vom Verbum éxestin „es steht frei, es ist erlaubt“.)
Anders Conzelmann, der in der Kopfbedeckung selber eine Schutzmacht gegen kosmische Mächte sieht (S. 231). Ähnlich Lietzmann, der im „Schleier“ ein apotropäisches Mittel der Dämonenabwehr sieht (S. 55).

Der Hinweis auf die Engel ist ebenfalls unerklärt. Manche Ausleger denken an Stellen wie 1Kor 4,9 („wir sind der Welt ein Schauspiel geworden, sowohl Engeln als auch Menschen“) oder Eph 3,10 („damit jetzt den Herrschaften und Mächten in der Himmelswelt durch die Gemeinde bekannt gemacht wird die mannigfaltige Weisheit Gottes“). Die Engel sind also Zeugen des göttlichen Heilshandelns, aber auch des Glaubensvollzugs der Christen. Die von mir sonst geschätzte Stuttgarter Erklärungsbibel versteht „den Schleier als Schutz vor den begehrlichen Blicken gefallener Engel (vgl. 1Mo 6,2)“. Das entspricht aber weder jüdischem Denken, noch paulinischer Theologie (vgl. Eph 3,10; 1Tim 5,21; Lk 15,10). Andere denken etwa an Jes 6,2, wo die Serafim (vor Gott) ihr Gesicht bedecken. Schlier versteht die Nennung der Engel als Andeutung der Gegenwart Gottes und Christi im Kultus (S. 678f).

V. 11-12

11 πλὴν οὔτε γυνὴ χωρὶς ἀνδρὸς οὔτε ἀνὴρ χωρὶς γυναικὸς ἐν κυρίῳ· Jedoch weder Frau ohne Mann, noch Mann ohne Frau im Herrn.
12 ὥσπερ γὰρ ἡ γυνὴ ἐκ τοῦ ἀνδρός, οὕτως καὶ ὁ ἀνὴρ διὰ τῆς γυναικός· τὰ δὲ πάντα ἐκ τοῦ θεοῦ. Denn wie die Frau vom Mann her, so auch der Mann durch die Frau; alles aber von Gott her.

Paulus ist sich anscheinend der Problematik seiner Aussagen in V.8f bewusst, deshalb schwächt er sie ab (oder schränkt sie ein). „Im Herrn“ gelten andere Regeln, der Mann braucht auch die Frau (wie anders könnte er geboren werden). Allerdings wird die Spannung zum Vorigen nicht aufgelöst. Hurley sieht (S. 176f) in diesen Versen einen bereits mit V.10 beginnenden Hinweis an die Männer, dass sie ihre hierarchische Stellung nicht in liebloser Weise missbrauchen dürfen, wie in Eph 5,28-31 und 1Petr 3,7.

V. 13-16

13 Ἐν ὑμῖν αὐτοῖς κρίνατε· πρέπον ἐστὶν γυναῖκα ἀκατακάλυπτον τῷ θεῷ προσεύχεσθαι; Urteilt bei euch selbst: ziemt es sich, dass eine Frau unbedeckt zu Gott betet?
14 οὐδὲ ἡ φύσις αὐτὴ διδάσκει ὑμᾶς ὅτι ἀνὴρ μὲν ἐὰν κομᾷ, ἀτιμία αὐτῷ ἐστιν, Lehrt euch nicht auch die Natur selbst, dass, wenn ein Mann langes Haar trägt, (es) für ihn eine Schande ist,
15 γυνὴ δὲ ἐὰν κομᾷ, δόξα αὐτῇ ἐστιν; ὅτι ἡ κόμη ἀντὶ περιβολαίου δέδοται [αὐτῇ]. wenn eine Frau aber langes Haar trägt, (es) für sie eine Ehre ist? Weil das Haar [ihr] als Umhüllung gegeben ist.
16 Εἰ δέ τις δοκεῖ φιλόνεικος εἶναι, ἡμεῖς τοιαύτην συνήθειαν οὐκ ἔχομεν, οὐδὲ αἱ ἐκκλησίαι τοῦ θεοῦ. Wenn aber jemand gedenkt, streitsüchtig zu sein: wir haben eine solche Sitte nicht, auch nicht die Gemeinden Gottes.

Kopf eines archaischen Kouros (um 600 v.Chr.) mit langen Zöpfen, die auf Brust und Rücken fallen, von hinten, Museum von Thasos, 2019.

Monumentaler Bronzekopf Konstantins des Großen mit Ansätzen zu einer Vokuhila-Frisur, Kapitols­museum Rom, 2008.

Paulus nimmt noch einmal Anlauf, indem er rhetorische Fragen stellt. Doch die Natur lehrt in Bezug auf Kleidung und Haartracht gar nichts. Diese sind kulturell vermittelt. Vollends problematisch ist die Behauptung, langes Haar sei für einen Mann von Natur aus eine Unehre. Was ist mit den Nasiräern? Simson trug langes Haar (Ri 16,17); als es ihm geschnitten wurde, war es mit seiner Kraft vorbei. (Paulus selbst war vielleicht eine Zeitlang Nasiräer, s. Apg 18,18.) Die homerischen Helden waren langhaarig, die κάρη κομόωντες Ἀχαιοί „am Kopf langhaarigen Achaier“ sind ein wiederkehrender Versschluss Homers. Kelten und Germanen trugen (zumindest teilweise) das Haar lang. Cäsar berichtet dies von den Britanniern Gall. 5,14,3 (mit dt. Übers.). Einige röm. Autoren bezeichneten daher den bis zum Gallischen Krieg nicht-romanisierten Teil des transalpinen Galliens als Gallia comata „langhaariges Gallien“ (z.B. Catull c. 29,3). Wenn Paulus von φύσις „Natur“ spricht, meint er wohl eher, was er in V.16 συνήθεια „Gewohnheit, Sitte“ nennt. Doch auch die „lehrt“ nichts. Die Relativität solcher Beurteilungen war Philon von Alexandria, Jude und älterer Zeitgenosse des Paulus, wohl bewusst (Phil. ebr. 194): „Das für uns Schändliche (αἰσχρά aiskhrá) jedenfalls ist für andere schön, und das Geziemende unziemlich, und das Gerechte ungerecht; und für unfromm halten sie das Fromme, für rechtmäßig wiederum das Widerrechtliche, ferner noch für tadelnswert das Löbliche und für strafwürdig das der Ehre Würdige und alles übrige für sein Gegenteil.“

Vermutlich hat Fee das Richtige gesehen, wenn er meint (S. 529), dass Paulus wohl sagen will, dass der Umstand, dass der Frau ein περιβόλαιον „Umhüllung“ gegeben ist, darauf hinweist, dass sie als Frau (in der Gemeindeversammlung) eine Verhüllung braucht. Manche Ausleger meinen aber, dass diese Umhüllung bereits ausreicht, dass Paulus also keine spezielle Kleidung, sondern eine spezielle Frisur von den Frauen fordert.

Was Paulus meinem Verständnis nach für Korinth möchte: Männer kurze Haare, Beten ohne Kopfbedeckung; Frauen lange Haare, Beten mit Kopfbedeckung. Die Begründung dafür bleibt für uns aber unverständlich und nicht nachvollziehbar. Aber wohl auch für viele Korinther, deshalb schließt Paulus auch mit einem Machtwort (V.16): keine weitere Diskussion, die anderen Gemeinden halten es ja auch so!

Fazit

Wir kommen nicht umhin festzustellen, dass der Apostel die Notwendigkeit der Kopfbedeckung für Frauen nicht überzeugend begründen kann. Ginge es darum, dass die Barhäuptigkeit von Frauen als sexuelles Angebot missverstanden werden konnte und zu befürchten stand, dass manche Männer beim Gottesdienst auf unheilige Gedanken kommen, dann könnte ich Paulus' Anliegen nachvollziehen. Es geht ihm aber um die sichtbare Unterscheidung und/oder Unterordnung der Frau. Warum ist das so wichtig? Und warum wird dies durch eine Kopfbedeckung symbolisiert? Ich könnte es auch verstehen, wenn Paulus um die negative Außenwirkung des emanzipatorischen Verhaltens mancher Frauen in der Gemeinde fürchtete („die spinnen, die Christen“), aber Paulus deutet nichts in dieser Richtung an. Vielleicht geht es ihm darum, eine (Irr-)Lehre zu bekämpfen, die u.a. auch eine Gleichordnung von Mann und Frau oder die Irrelevanz des Geschlechts in geistlichen Belangen gelehrt hat (Conzelmann S. 226, Anm. 41: „Der Geist macht alle gleich.“) (Vgl. das letzte Logion des kopt. Thomasev.: ⲥϩⲓⲙⲉ ⲛⲓⲙ ⲉⲥⲛⲁ ⲛ̄ϩⲟⲟⲩⲧ ⲥⲛⲁⲃⲱⲕ ⲉϩⲟⲩⲛ ⲙⲛ̄ⲧⲉⲣⲟ ⲛⲙ̄ⲡⲏⲩⲉ „Jede Frau, die sich männlich macht, wird hineingehen in das Reich der Himmel.“) — Aber die argumentativen Mängel bleiben trotzdem bestehen.

Conzelmann glaubt, dass das Kopftuch in Korinth bereits Sitte war, die aber „infolge des Pneumatismus“ von manchen Frauen ignoriert wurde. Es geht wie in anderen Kapiteln des 1Kor um „durchgehende Abwehr des Enthusiasmus“. (Man fühlt sich an Luthers Kampf gegen die Schwarmgeister erinnert.) Aber auch so bleibt unklar, warum dabei das Kopftuch so wichtig ist.

Die Sitte, dass jüdische Männer mit einem Gebetsschal auf dem Kopf beten, stammt aus spätantiker Zeit (lt. Strack/Billerbeck Bd. 3, S. 425 belegt seit Anfang 4. Jh.). Paulus kannte sie, soweit wir wissen, noch nicht. Dass diese Sitte entstehen konnte, zeigt aber, dass für das Judentum die Forderung, dass ein Mann unbedeckten Hauptes zu beten habe, aus dem Schöpfungsbericht nicht ableitbar war (s. V.7).

Bachmann versucht, die ganze Passage nur auf Eheleute und evt. kleine familiäre Hausgemeinschaften zu beschränken. Aber „beten und prophezeien“ setzt doch Öffentlichkeit voraus. Paulus wird doch wohl niemandem vorschreiben wollen, wie er sich in seinen eigenen vier Wänden bei der Stillen Zeit zu kleiden habe.

Lindemann meint, „auf das Haupt herab habend“ meine vermutlich lang herabhängendes Haar. Dagegen versteht er das „mit unbedecktem Haupt“ anscheindend als Kurzhaarfrisur (S. 240). Paulus opponiert also gegen langhaarige Männer und Frauen mit Igelschnitt. Das geht aber aus sprachlichen Gründen am Text vorbei.

Hurley verweist (S. 170f) auf Num 5,18, wo es im Zusammenhang mit der Zeremonie, die ein Priester durchzuführen hat, wenn ein Mann seine Ehefrau der Untreue verdächtigt, heißt: וּפָרַע אֶת־רֹאשׁ הָאִשָּׁה „und er (der Priester) soll das Haupt der Frau freilassen“ (=ihr Haar lösen, sodass es offen herabhängt?). Die LXX gibt das wieder mit καὶ ἀποκαλύψει τὴν κεφαλὴν τῆς γυναικός „und er soll das Haupt der Frau enthüllen“. Daraus zieht Hurley den Schluss, das Problem des unverhüllten Hauptes sei nicht eine fehlende Kopfbedeckung, sondern offen getragenes Haar. Die Frau soll also ihr Haar hochstecken o.ä. (Anders als von Hurley behauptet, kommt das Wort akatakalyptos „unbedeckt, unverhüllt“ in Num 5,18 nicht vor, sondern in Lev 13,45, wo es vom Aussätzigen heißt: וְרֹאשׁוֹ יִהְיֶה פָרוּעַ „und sein Haupt soll freigelassen sein“ [d.h. er soll sein Haar wachsen lassen?] bzw. in der Wiedergabe der LXX καὶ ἡ κεφαλὴ αὐτοῦ ἀκατακάλυπτος [ἔστω] „und sein Haupt [soll sein] unverhüllt“.) Doch in Lev 10,6; 21,10 wird dasselbe hebr. Wort mit einer Form von ἀποκιδαρόω „die kídaris ablegen“ (das ist eine persische Kopfbedeckung, eine Tiara, ein Turban o.ä.) wiedergegeben (zusammen mit dem Zerreißen der Kleider als Ausdruck der Trauer). Die LXX-Übersetzer haben die Wendung פרע אֵת הָרֹאשׁ prʿ ʾet hā-rôš „das Haupt freilassen“ offenbar anders verstanden als die modernen Ausleger. Daraus lässt sich nichts für die Interpretation von 1Kor 11 ableiten.

Und heute?

Dürfen junge gläubige Männer langes Haar tragen? Dürfen sich gläubige Frauen eine Kurzhaarfrisur zulegen? Müssen sie im Gottesdienst heutzutage ihr Haupt bedecken wie im Iran? Manche Ausleger versuchen der Frage auszuweichen, indem sie durch exegetische Tricks zu dem Ergebnis kommen, dass das Paulus gar nicht fordert. Aber der Text ist ziemlich eindeutig. Es geht im Kern um die Frage, ob die Unterordnung der Frau und die antiken Symbole dafür eine für alle Zeit gültige Wahrheit sind oder ob wir diese Sichtweisen als zeitbedingt in Frage stellen dürfen.

In der Kultur, aus der Paulus stammt, war die Unterordnung der Frau ein gesellschaftliches Faktum. Paulus war der Meinung, das das gottgewollt ist und Gottes Schöpfungsordnung entspricht. Dabei ist diese Unterordnung der Frau unter den Mann aus dem Schöpfungsbericht eigentlich nicht herauszulesen. Weder Gen 1,27 noch Gen 2,23 sprechen dafür. Vielmehr ist es Gottes Strafe für den Menschen nach dem Sündenfall Gen 3,16, die die Herrschaft des Mannes über die Frau ätiologisch begründet (nicht: sie rechtfertigt). Sie ist also nicht in Gottes Schöpfungsordnung begründet und kein Auftrag Gottes, sondern die Folge dessen, was der Mensch aus Gottes guter Schöpfung gemacht hat. Ist Paulus' (exegetisch hinterfragbare) Sichtweise wirklich für uns bindend? Sind seine Anweisungen für alle Zeiten gültig, unabhängig von kulturellen und historischen Gegebenheiten?

Paulus war ein Kind seiner Zeit. Ich bin Kind einer ganz anderen Zeit. Ich bin nicht der gesetzliche Vormund meiner Frau oder meiner erwachsenen unverheirateten Tochter. Beide sind selbständige Rechtssubjekte, denen ich nichts vorschreiben kann. Frauen haben dieselben kognitiven Fähigkeiten wie Männer. Warum also sollten sie nicht ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihre Fähigkeiten entfalten dürfen? Zu Paulus' Zeit wurden die Kinder von ihren Vätern verheiratet. Das geht heute nicht mehr. Meine Tochter muss sich selbst einen Partner finden und sich bis dahin (oder auch darüber hinaus) von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Die Unterordnung, wie sie zu Paulus' Zeit bestanden hat, findet heute nicht mehr statt und kann auch nicht eingefordert werden. Man kann das als unchristlich und Entwicklung in die falsche Richtung betrachten, man kann es aber auch als gesellschaftlichen Fortschritt sehen wie die Abschaffung der Sklaverei.

Da die Frau bei uns nicht mehr unter irgendjemandes Macht steht, wäre auch ein äußeres Zeichen dafür anachronistisch. Abgesehen davon, dass kaum jemand dieses Zeichen noch verstünde. Das Rad der Zeit können auch wir Christen nicht zurückzudrehen. Daher sollten wir uns besser überlegen, wie das Zusammenleben der Geschlechter unter den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Sinne des Evangeliums gestaltet werden kann. Das Festhalten am Kopftuch ist ein Anachronismus, mit dem niemandem gedient ist, am allerwenigsten Christus. Das kann man freilich auch anders sehen, meine Ansicht ist eine Momentaufnahme meines derzeitigen Kenntnisstandes. Ich will auch keine Christin daran hindern, aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen. Aber als notwendig empfinden kann ich das nicht.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 6. Feb. 2024