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KI und falsche Heilsversprechen
In ihrem Buch „Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche“ stellt die Philosophin Claudia Paganini die These auf, dass künstliche Intelligenz (KI) heute als neuer Gott gedacht werden kann, und zeigt, welch radikal neue Aspekte dieses Gottesbild in sich trägt.
Also schreibt Irene Klissenbauer im Vorspann ihrer Rezension des genannten Buches auf religion.ORF.at. Paganinis These klingt beim ersten Lesen nach Nonsens, und Nonsens bleibt sie auch nach der Lektüre des Artikels. (Das Buch selber habe ich zugegebenermaßen nicht gelesen. Ich vertraue darauf, dass Frau Klissenbauer die Kernthesen korrekt wiedergibt.)
Dass Menschen Götter „imaginiert“ haben, wie Paganini schreibt, ist ein alter religionskritischer Topos, der nicht richtiger wird, wenn man ihn oft genug wiederholt. Richtig ist, dass alle Welterfahrung und insbesondere die mit dem Numinosen interpretiert werden muss. Und über die Stichhaltigkeit dieser Interpretation kann, ja muss man diskutieren. (Sind z.B. die geschichtlichen Widerfahrnisse des Volkes Israel das Ergebnis von Segen und Strafe Gottes? Oder ist das nur Wunschdenken? Verweisen die Erscheinungen des auferstandenen Jesus auf eine faktische Wirklichkeit? Oder spielten sie sich nur in der Psyche der Jünger ab?)
Martin Luther sagt in seinem Großen Katechismus zum ersten Gebot („Du sollst nicht andere Götter haben“):
Was heißt, ein Gott haben; oder, was ist Gott? Antw[ort]. Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten, und Zuflucht haben in allen Nöthen; also, daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide, Gott und Abegott. […] Worauf du nu (sage ich,) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.
Luther war kein Religionsphilosoph. Sein Erklärung des Gottesbegriffs ist keine One-size-fits-all-Definition, sondern sie zielt auf den praktischen Glaubensvollzug: Menschen haben immer schon ihr Herz an Dinge gehängt, von denen sie sich Hilfe und Schutz, Erfüllung und Glück erhofft haben. Luther selbst nennt Beispiele:
Es ist Mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich drauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts giebt. […] Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies. […] Also auch, wer darauf trauet und trotzet, daß er große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott; aber nicht diesen rechten einigen Gott.
Natürlich kann man auch vom Geld nur cum grano salis sagen, es sei ein Gott. Nämlich insofern, als sich Menschen die Sicherung ihres Daseins vom Geld erwarten. Aber wie es in der Beispielgeschichte vom reichen Kornbauern heißt: „Unvernünftiger, in dieser Nacht werden sie deine Seele von dir zurückfordern; was du bereitet hast, wem wird es gehören?“ (Lk 12,20) Luther nennt weitere falsche Heilsversprechen, zu denen er natürlich auch die kirchliche Praxis der Heiligenverehrung zählt, aber auch Zauberei und schwarze Magie.
Keiner, der seine sieben Zwetschken beieinander hat (oder wie man jenseits des Weißwurstäquators sagt: der noch alle Tassen im Schrank hat), wird sich etwas Vergleichbares von der KI erwarten. Ich kenne niemanden, der sich von der KI die Beantwortung existenzieller Fragen, Hilfe oder Trost erhofft. Insofern sehe ich nicht, wie die KI die Stelle Gottes einnehmen könnte.
Laut dem ORF-Artikel sieht Paganini eine Gemeinsamkeit von Gott und KI in der Allgegenwart. Aber bei einem größeren Stromausfall ist es mit der Allgegenwart der KI vorbei. Gott (zumindest der christliche) ist zwar allgegenwärtig, aber unverfügbar. Man kann ihn fragen; aber ob und wie man eine Antwort erhält, bleibt ihm überlassen. Und auch ich leide manchmal darunter, dass Gott zu schweigen scheint. Die KI dagegen antwortet immer; aber gerade auf Grundfragen des Lebens, wie der nach seinem Sinn, kann die KI nur Thesen absondern, aber keine existenzielle Erfahrung, keinen Trost vermitteln.
Auch Klissenbauer vermerkt, dass manche der Vergleiche „etwas weiter hergeholt“ sind. Das ist natürlich stark untertrieben. Auch allwissend ist die KI nicht, wie jeder weiß, dem sie schon einmal etwas vorhalluziniert hat. Eine Schutzfunktion kann ich schon gar nicht erkennen. Das alles erscheint mir als komplett an den Haaren herbeigezogen. Paganini, die auch studierte Theologin ist, sollte es besser wissen.
Die KI ist trotz dieser Bezeichnung nicht intelligent, sie versteht nichts (lat. intellegō „ich erkenne, verstehe“); sie produziert aus einem Input, basierend auf den dort miteinander verknüpften Begriffen, einen Output, der auf hochkomplexen Wahrscheinlichkeitsberechnungen und einer großen Menge an Daten (die quasi das Weltwissen der KI darstellen) beruht. Die KI hat keine Gefühle, kein Gewissen, keinen gesunden Menschenverstand, sie kann über Witze nicht lachen. Die KI ist ein praktisches Werkzeug. Aber niemand käme auf die Idee, ein Schweizer Taschenmesser oder ein Leatherman-Multifunktionstool mit Gott zu vergleichen.
Sehr tiefgründig scheint mir das alles nicht zu sein. Die Frage, „ob es sich bei der KI um eine Gottheit mit emanzipatorischem Potenzial handelt […]“, kann man getrost verneinen. So wenig ein Aufsitzrasenmäher oder die Encyclopædia Britannica eine Gottheit ist, so wenig ist es die KI. Wer hier dennoch Parallelen zieht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er den Glauben an Gott im Grunde genommen lächerlich und irrational findet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Frau Paganini nicht bewusst ist. Und ich frage mich, warum man beim ORF das Buch für wichtig genug hält, um es prominent (d.h. mit großer Bildkachel auf der Hauptseite) zu rezensieren.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 16. Juni 2025