Michael Neuhold
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Lectio sexta


sexta sechste dt. Sext: sechstes Intervall; Sextett: Stück für sechs Musiker

1.a

[Text]

Jesus gibt seinen Jüngern in der Bergpredigt ein Beispiel, wie rechtes Gebet aussehen kann (Mt 6,9-13):

Pater noster, qui es in caelis [1]: Unser Vater, der du in den Himmeln bist:
Sanctificetur nomen tuum. Dein Name werde geheiligt.
Adveniat regnum tuum. Dein Reich komme.
Fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra. Dein Wille geschehe, wie im Himmel (so) auch auf der Erde.
Panem nostrum cottidianum da nobis hodie. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern erlassen.
Et ne nos inducas in tentationem. Und führe uns nicht in Versuchung.
Sed libera nos a malo. Amen. Sondern befreie uns vom Bösen. Amen.

[Vokabel]

(1) pater, patr-is m Vater
(2) noster, nostr-a, nostr-um unser
(3) qui, quae, quod Relativpronomen: welcher/-e/-es; der/die/das (vgl. 3/4)
(4) cael-um, -i n Himmel; Witterung, Klima
(5) sanctí-fic-o, -are (heilig-machen:) heiligen
(6) tu-us, -a, -um dein
(7) ad-veni-o, ad-veni-re ankommen dt. Advent = Ankunft (Christi)
(8) regn-um, -i n (Königs-)Herrschaft, (König-)Reich
(9) fi-o, fieri werden, geschehen
(10) voluntas, voluntát-is f Wille
(11) sicut (so) wie
(12) terr-a, -ae f Land, Erde
(13) pan-is, pan-is m Brot
(14) cottidián-us, -a, um täglich
(15) nobis uns (Dat.)
(16) hódie (ho-di-e) heute
(17) di-mitt-o, di-mitt-e-re wegschicken, entlassen, aufgeben
(18) débe-o, debé-re schulden, müssen
(19) débit-um, -i n (Geschuldetes:) Schuld, Verpflichtung
(20) débitor, debitór-is m Schuldner
(21) ne (+ Konj./Imptv.) nicht
(22) nos wir, uns (Nom. od. Akk.)
(23) in-dúc-o, in-dúc-e-re (hin-)einführen
(24) tentátio, tentatión-is f Versuchung
(25) sed aber, sondern
(26) líber-o, liber-a-re befreien
(27) malus, -a, -um schlecht, übel, böse (vgl. 2/6)

[Grammatik]

Substantiva benötigen drei Bestimmungsstücke: den Nominativ Singular (Nom.Sg.), den Genetiv Singular (Gen.Sg.) und das Geschlecht (m[askulinum] = männlich, f[emininum] = weiblich, n[eutrum] ("keines von beiden") = sächlich). Die Deklination der häufigsten Deklinationsklassen lautet:

o-Dekl. a-Dekl. e-Dekl. u-Dekl. Kons.Dekl.
Mask. Neutr. Mask. Mask./Fem. Neutr.
Nom.Sg. dómin-us regn-um terr-a di-es port-us pater nomen
Gen. domin-i regn-i terra-ae di-ei port-us patr-is nómin-is
Dat. domin-o regn-o terr-ae di-ei port-ui patr-i nómin-i
Akk. domin-um regn-um terr-am di-em port-um patr-em nomen (= Nom.)
Vok. domin-e = Nom.
Abl. domin-o regn-o terr-ā di-e port-u patr-e nómin-e
Nom.Pl. domin-i regn-a terr-ae di-es port-us patr-es nómin-a
Gen. domin-órum regn-órum terr-árum di-érum pórt-uum patr-um nómin-um
Dat. domin-is regn-is terr-is di-ébus pórt-ibus pátr-ibus nomín-ibus
Akk. domin-os regn-a terr-as di-es port-us patr-es nómin-a
Vok. = Nom.
Abl. domin-os regn-a terr-is di-ébus pórt-ibus pátr-ibus nomín-ibus

Erinnern wir uns, dass der Vok. der Wörter auf -eus und -ius auf -i endet. Bei den Mask. auf -us gibt es eine Handvoll, die im Nom.Sg. auf -er statt auf -(e)rus enden, d.h. sie haben das -us verloren: puer (statt puer-us), puer-i m "Bub, Knabe", ager (statt agr-us), agr-i m "Acker, Gebiet". Mulier und pater enden zwar auch auf -er, aber der Gen. zeigt, dass das Wort zur Konsonantischen Deklination gehört.

Wörter der o-Dekl. auf -ius und -ium kontrahieren -ii öfter zu -i: negoti-um (4/12), negoti-i oder negoti.

Die Adj. auf -us, -a, -um deklinieren also im Mask. wie domin-us, im Fem. wie terr-a und im Neutrum wie regn-um. Auch hier gibt es welche, die im Nom.Sg.Mask. auf -er enden: noster (statt nostr-us), nostr-a, nostr-um.

Mask. Fem. Neutr.
Nom.Sg. mal-us mal-a mal-um
Gen. mal-i mal-ae mal-i
Dat. mal-o mal-ae mal-o
Akk. mal-um mal-am mal-um
Abl. mal-o mal-a mal-o
Vok. mal-e mal-a mal-um
Nom./Vok.Pl. mal-i mal-ae mal-a
Gen. mal-orum mal-arum mal-orum
Dat. mal-is mal-is mal-is
Akk. mal-os mal-as mal-a
Abl. mal-is mal-is mal-is

Wie man sieht, sind Mask. und Neutr. in einigen Fällen formengleich. Libera nos a malo kann also bedeuten: "befreie uns vom Bösen" (Mask. malus = der Böse, d.h. der Satan) oder "befreie uns vom Übel" (Neutr. malum = das Böse, Schlechte, Übel, Unglück).

Verbote formuliert man im Lat.:

ne + Konj. Präs., Konj. Perf. oder Imperativ
ne hoc dicas! "sag das nicht!"
ne properáveris! "beeil dich nicht!"
ne respondéte! "antwortet nicht!"
noli "wolle nicht" (Pl. nolite "wollt nicht") + Inf.
noli me tángere! "berühre mich nicht!" (der auferstandene Jesus zu Maria Magdalena)

1.b

[Text]

In den Cármina Burána ("Benediktbeurer Lieder"), einer Sammlung mittelalterlicher Lieder, die in einer Handschrift aus Benediktbeuern überliefert ist, findet sich das folgende spöttische Gebet eines Studierten (215a):

Omnípotens sempiterne deus, Allmächtiger, ewiger Gott,
qui inter rústicos et cléricos magnam discórdiam seminasti, der du zwischen Bauern und Akademikern große Zwietracht gesät hast,
praesta, quaesumus, de labóribus eórum vívere, gewähre (uns) bitte, von ihren (=der Bauern) Mühen zu leben,
de muliéribus ipsórum uti von ihren Frauen Gebrauch zu machen,
et de morte dictorum semper gaudére. und uns über den Tod der Besagten immer zu freuen.

[Vokabel]

(30) omní-potens, omni-potent-is all-mächtig
(31) sempitern-us, -a, -um immerwährend, ewig (v. 48 semper)
(32) de-us, de-i m Gott Deismus: Weltanschauung, der zufolge Gott die Welt zwar erschaffen hat, sich aber nicht um sie kümmert
(33) inter (+Akk.) zwischen, unter Inter-city: Zug, der zwischen größeren Städten verkehrt
(34) rústic-us, -a, -um ländlich, bäuerlich; Subst. (meist abwertend) Bauer dt. rustikal
(35) cléric-us, -i m Geistlicher; hier: jemand der höhere Bildung hat, d.h. Student, Akademiker dt. klerikal
(36) magn-us, -a, -um groß
(37) dis-cordi-a, -ae f Zwietracht, Streit Ggt.: con-cordi-a Eintracht
(38) sémin-o, -are säen dt. Seminar: (akademische) Bildungsstätte
seminasti du hast gesät
(39) prae-st-o, -are (voran-stehen=) übertreffen, besser sein; leisten; gewähren; an den Tag legen, erweisen
(5/9) quaes-u-mus (1.P.Pl.) wir bitten, bitte
(40) labor, labór-is m Plage, Mühe, Arbeit
(41) e-orum, e-arum von ihnen = ihr
(42) viv-o, viv-e-re leben
(43)=(3/8) múlier, mulíer-is f Frau
(44) ips-orum, ips-arum von ihnen selbst = ihr
(45) ut-or, ut-i (klass. + Abl.) gebrauchen, benutzen
(46) mors, mort-is f Tod Mortalität: Sterblichkeit
(46) dict-us, -a, -um genannt, besagt (v. 1/27 dico)
(48) semper immer Reifenmarke Semper-it: geht immer

[Grammatik]

deus hat im klass. Latein meist den Gen.Sg. und Nom./Vok.Pl. di-i oder (kontrahiert) di, den Dat. und Abl.Pl. di-is oder dis. Im klass. Latein gibt es keinen Vok.Sg., da heidnische Götter ja Namen haben und mit diesen angeredet werden. Im christl. Latein lautet der Vok.Sg. deus. Der Gen.Pl. lautet in der Dichtung nicht selten de-um.

utor bildet nur passive Formen (ein sog. Deponens). Darüber später mehr.

1.c

[Text]

In mehreren röm. Komödien bekommt die Geliebte des jungen Herren ein Kind und man hört sie in Geburtsschmerzen aus dem Haus schreiben (Ter. Ad. 486f):

Pámphila: Míseram me, dífferor dolóribus! Pamphila: Ich Arme, mich zerreißt's vor Schmerzen!
Iuno Lucina, fer opem! Serva me, óbsecro! Juno Lucína, bring Hilfe! Rette mich, ich flehe (dich an)!

[Vokabel]

(49) miser, míser-a, miser-um elend, unglücklich, arm (=bedauernswert) dt. miserabel
(50) me mich (Akk.)
(51) díf-fer-o, dif-fer-re zerreißen; (einen Termin) aufschieben; sich unterscheiden dt. differieren: sich unterscheiden
(52) dolor, dolór-is m Schmerz Eigenname Dolores
(53) fer-o, fer-re tragen, bringen; ertragen
(54) op-s, op-is f Macht, Stärke; Hilfe; Pl. (Hilfs-)Mittel: Reichtum, Macht, Truppen
(55) serv-o, -are retten, bewahren, erhalten
(56) óbsecr-o, -are beschwören, anflehen; (abgeschwächt) bitten

[Grammatik]

Me miseram! ist Akkusativ des Ausrufs und wird im Dt. mit dem Nominativ wiedergegeben.

fero hängt die mit r, s und t beginnenden Endungen ohne Bindevokal an den Stamm: fer-s, fer-t, fer-tis, fer-re, aber fer-i-mus, fer-u-nt. Der Imptv. lautet fer! fer-te!.

Wir haben bereits einige Formen des Personalpronomens der 1. und 2. Person kennengelernt: vos, vobis, te, tibi, mihi, nos, nobis, me. Hier die vollständige Deklination:

1.P.Sg. 2.P.Sg. 1.P.Pl. 2.P.Pl.
Nom./Vok. ego ich tu du nos wir vos ihr
Gen. mei meiner tui deiner nostri unser vestri euer
nostrum von uns vestrum von euch
Dat. mihi mir tibi dir nobis uns vobis euch
Akk. me mich te dich nos uns vos euch
Abl. a/de me von mir/über mich a/de te von dir/über dich a/de nobis von/über uns a/de vobis von/über euch
mecum mit mir tecum mit dir nobiscum mit uns vobiscum mit euch

Die Genetive nostri, vestri werden als Objektsgenetive verwendet, d.h. abhängig von Adjektiven und Verben, die einen Genetiv verlangen (z.B. "wir gedenken euer"); nostrum, vestrum werden als sog. Teilungsgenetive verwendet, in Wendungen wie "viele von uns", "niemand von euch" u.ä.

Kulturkunde

Römische Religion

Die antike Religion basierte auf dem Prinzip do ut des "ich gebe, damit du gibst". Das bedeutete, dass der Mensch der göttlichen Macht Verehrung und Opfer zukommen ließ und dafür Hilfe und Schutz erwartetete. Die Religion der Römer war geprägt von starkem Formalismus: eine Zeremonie mußte genau nach Vorschrift ablaufen.Von daher stammt die Redewendung favéte línguis! "begünstigt mit der Zunge", d.h. "schweigt andächtig!". Denn schon eine Lautäußerung eines Anwesenden bedeutete eine Abweichung und konnte die Zeremonie ungültig und damit wirkungslos machen.

Wann immer die Römer bei ihren Eroberungen auf neue Gottheiten stießen, versuchten sie sie mit Göttern ihres eigenen Pantheons gleichzusetzen, ein Vorgang, den man interpretatio Romana nennt. Insbesondere mit den griechischen Gottheiten verschmolzen die römischen und übernahmen viele ihrer Attribute. Die wichtigsten Gottheiten der Römer waren:

Name griech. Gegenstück griech. Abstammung Funktion, Wirkungsbereich Merkmale, bildl. Attribute
Iup(p)iter, Iov-is m Zeus Sohn des Kronos und der Rhea Göttervater, Herrschaft über Götter und Menschen; Wetter, Regen, Blitz Thron, Szepter, Diadem, Donnerkeil, Adler; Tempel auf dem Kapitol
Iuno, Iunón-is f Hera Schwester und Gattin des Zeus Schutzpatronin der Frau; Fruchtbarkeit, Geburt, Ehe Szepter, Diadem, Granatapfel, Hochzeitsfackel, Pfau
Neptúnus, -i m Poseidon Bruder des Zeus Meer, Erdbeben Dreizack
Pluto, Plutón-is m (andere Namen: Dis, Dit-is, Orc-us, -i) Hades Bruder des Zeus; Gatte der Persephone Herrscher des Totenreichs, Wachstum, Reichtum Szepter, Schlüssel, Kerberos (=dreiköpfiger Hund), Ähren
Minerv-a, -ae f Pallas Athene Tocher des Zeus, direkt aus seinem Haupt entsprungen Weisheit, Künste, Wissenschaften; Krieg Eule, Rüstung mit Helm, Rundschild und Speer, Ägis (Brustpanzer aus Ziegenfell)
Mars, Mart-is m Ares Sohn des Zeus und der Hera Krieg, Gott der Soldaten; ursprl. wohl auch Frühlingsgott: Monat März (mensis Martius) Rüstung, Lanze; Wolf, Specht
Venus, Véner-is f Aphrodite, Kypris Tochter des Zeus und der Dione oder aus dem Schaum (=Samen des Uranos) geboren Schönheit, Liebe, Sexualität
Mercúri-us, -i m Hermes Sohn des Zeus und der Maia Götterbote, Führer der Toten in die Unterwelt, Schutzgott der Reisenden, Kaufleute und Diebe geflügelte Kappe, geflügelte Sandalen, Heroldsstab mit zwei gewundenen Schlangen, manchmal mit einem Widder auf den Schultern
Bacch-us, -i m Dionysos Sohn des Zeus und der Semele (oder der Demeter) Wein, Ekstase Festkranz, Weinrebe, Thyrsosstab (=Stab mit einem Pinienzapfen am Ende)
Dián-a, -ae f Artemis Sohn des Zeus und der Leto Jagd, Beschützerin der wilden Tiere; Schutzgöttin der Jungfräulichkeit Pfeil und Bogen, Wildtier (Reh, Hirsch, etc.)
Apollo, Apóllin-is (od. Apollón-is) m (anderer Name: Phoeb-us, -i) Phoibos Apollon Sohn des Zeus und der Leto, Zwillingsbruder der Artemis Prophetie, Musik, Bogenschießen und Leierspiel, Krankheit und Medizin, Sonnengott Leier oder Bogen
Vulcán-us, -i m Hephaistos Sohn des Zeus und Hera (oder der Hera allein); Gatte der Aphrodite Patron der Schmiede und Metallgießer lahm; Hammer und Amboss
Ceres, Cérer-is f Demeter Tochter des Kronos Ackerbau; Ehe; Totengöttin
Prosérpina, -ae f Persephone Tochter der Demeter, Gattin des Hades Königin des Totenreichs
Vest-a, -ae f Hestia Tochter der Kronos und der Rhea Göttin des Herdfeuers und des Familienlebens Tempel auf dem Forum Romanum

Wurde eine Gottheit in einer bestimmten Funktion angerufen, bekam sie oft ein Beiwort wie z.B. oben Iuno Lucina, die Geburtshelferin (in dieser Funktion der griech. Artemis Eileithyia gleichgesetzt), oder Iuppiter hospes, der Beschützer des Gastrechts.

Im privaten Bereich verehrten die Römer die Manen (man-es, -ium m/f), die göttlich gedachten Seelen der Verstorbenen, die Penaten (penát-es, -ium m), Schutzgötter des Hauses und der Familie, deren Bilder am Herd standen, und die Laren (Lar, Laris m), Geister der Grundstücke, Schutzgötter des Hauses und Seelen von Verstorbenen. Die Männer verehrten überdies ihren Genius, Verkörperung der männlichen Kraft und persönlicher Schutzgeist.

Doch glaubte die gebildete Oberschicht längst nicht mehr an die überkommenen Götter, ihre Weltanschauung war bestimmt von der Philosophie der Stoiker und Epikuräer. Doch auch das einfache Volk fand in den oft unpersönlichen numinosen Mächten der alten Religion immer weniger Trost und wendete sich östlichen Kulten zu, wie dem der ägypt. Götter Isis und Osiris, dem der kleinasiat. Muttergottheit Kybele oder dem des Mithras.

In dieser Situation war die aus Judäa stammende Verehrung des Jesus aus Nazareth als Gottessohn und Erlöser zunächst nur ein Kult von vielen. Mehr als andere religiöse Kulte war das Christentum jahrhundertelang oft grausamer Verfolgung ausgesetzt, bis Kaiser Konstantin in seiner Person das Kaiserhaus zum Beschützer der christlichen Kirche machte und Kaiser Theodosius das Christentum sogar zur Staatsreligion erhob.

2.a

[Text]

Die röm. Komödie gibt uns zahlreiche Beispiele für Schimpfwörter. Beschimpft werden dabei vor allem die Sklaven, die im Auftrag und zu Gunsten ihrer jungen Herren und ihrer amourösen Interessen Intrigen spinnen. Wie im Dt. wird auch im Lat. dem Beschimpften meist entweder die moralische Qualität (Gauner) oder die intellektuelle (Dummkopf) abgesprochen.

Im folgenden Textstück beginn dem alten Herrn Menedémus langsam dämmern, dass auch bei seinem Nachbarn Chremes, von dem er dauernd schlaue Ratschläge bekommt, nicht alles zum Besten steht (Ter. Haut. 874-878).

Menedemus: Me non tam astútum neque ita perspicácem esse, id scio. Menedemus: Dass ich nicht so schlau und nicht so scharfsichtig bin, das weiß ich.
Sed hic adiútor meus et mónitor Chremes hoc mihi praestat. Aber dieser mein Helfer und Berater Chremes übertrifft mich darin.
In me quidvis harum rerum cónvenit, quae sunt dicta de stulto: caudex, stipes, ásinus, plúmbeus. Auf mich paßt jedes von diesen Dingen, die man über einen Dummkopf gesagt hat: Holzklotz, Tölpel, Esel, Bleischädel.
In illum nil potest, exsúperat eius stultítia haec ómnia. Auf jenen vermag das nichts [2], seine Dummheit übertrifft dies alles.

[Vokabel]

(57) tam so
(58) astút-us, -a, -um schlau, listig
(59) neque und nicht, auch nicht
(60) pérspicax, perspicác-is scharfsichtig
(61) is, ea, id dieser/-e/-es, der/die/das; (nur in Gen. bis Abl.) er/sie/es
(62) eius Gen.Sg. von is: von diesem/dieser = sein/ihr
(63) sci-o, sci-re wissen
(64) ad-iútor, ad-iutór-is m Helfer, Förderer
(65) mónitor, monitór-is m Mahner, Berater Monitor: Bildschirm
(66) qui-vis, quae-vis, quid-vis (welcher du willst =) jeder beliebige; Neutr. alles mögliche
(67) r-es, r-ei f Sache, Ding, Angelenheit; Vermögen; Prozess
(68) con-veni-o, con-veni-re zusammenkommen; zustandekommen; (zusammen)passen
(69) stult-us, -a, -um töricht, dumm; Subst. Dummkopf, Tor
(70) caudex, caúdic-is oder codex, códic-is m Baumstamm, Klotz; Heft, Buch
(71) stipes, stípit-is m Pfahl, Scheit, Klotz; Tölpel
(72) ásin-us, -i m Esel
(73) plúmbe-us, -a, -um bleiern; stumpfsinnig, dumm; Subst. Dummkopf, Idiot
(74) ille, -a, -ud jener
(75) ni(hi)l nichts
(76) pos-s-u-m, posse können, vermögen
(77) ex-súper-o, -are überragen, übertreffen, überwinden
(78) stultíti-a, -ae f Dummheit
(79) omn-is m f, -e n jeder, ganz; Pl. alle Omnibus: (Verkehrsmittel) für alle (Dat.Pl.)

[Grammatik]

posse ist zusammengesetzt aus pot- und esse, vor den mit s- anlautenden Formen von esse wird pot- zu pos-: pos-sum, pot-es, pot-est, pos-sumus, pot-estis, pos-sunt. Der Inf. ist verkürzt zu posse.

Als Übersetzung habe ich mir geläufige dt. Gegenstücke verwendet. Allerdings sind die lat. Wörter wohl auf einer "höheren" Ebene angesiedelt, d.h. "Tor, Tölpel" dürfte den Ton eher treffen als "Trottel, Idiot".

is wird einerseits als "schwaches" Demonstrativpronomen (vergleichbar dem Deutschen "der (da)") und andererseits in den obliquen Kasus (d.h. Gen. bis Abl., nicht im Nom.) als Personalpronomen der dritten Person ("er, sie es") verwendet. Der Genetiv dient außerdem als Possessivpronomen der dritten Person ("sein, ihr"), wenn der Besitzer nicht das Subjekt des Satzes ist:

Nom./Vok.Sg. i-s e-a i-d
Gen. e-ius
Dat. e-i
Akk. e-um e-am i-d
Abl. e-ō e-ā e-ō
Nom./Vok.Pl. i-i, e-i e-ae e-a
Gen. e-orum e-arum e-orum
Dat. i-is, e-is
Akk. e-os e-as e-a
Abl. i-is, e-is

res gehört zur e-Dekl.: Sg. r-es, r-ei, r-ei, r-em, r-e; Pl. r-es, r-erum, r-ebus, r-es, r-ebus.

Wir kennen bereits die Konstruktion te venisse "dass du gekommen bist" (2/17). Hier haben wir dasselbe: me astutum non esse "dass ich nicht schlau bin". Von Verben der Wahrnehmung (sehen, hören, glauben, erkennen, wissen, hoffen usw.), der Mitteilung (sagen, antworten, erzählen, melden, überliefern, versprechen usw.) und der Gemütsregung (sich freuen, bedauern, sich wundern, beklagen usw.) hängt oft ein Akkusativ mit Infinitiv (kurz: AcI) ab. Im Deutschen müssen wir daraus meist einen Nebensatz mit "dass" machen, wobei der lat. Akk. zum Subjekt, der Inf. zum Prädikat des Nebensatzes gemacht wird.

Hier noch ein kleines Florilegium weiterer Beschimpfungen aus der röm. Komödie:

(80) scelus, sceler-is n Verbrechen, Frevel; Halunke, Schurke
(81) scelest-us, -a, -um verbrecherisch; Subst. Gauner, Schurke
(82) fúrci-fer, furcí-fer-i m (Gabelträger ~) Galgenstrick Sklaven wurden als Bestrafung an die furca gebunden, ein gabelförmiges Holz, das auf den Nacken gesetzt wurde
(83) cárni-fex, carní-fic-is m (Fleischmacher =) Henker; Peiniger, Schurke
(84) sacrí-leg-us, -a, -um tempelräuberisch, gottlos; Subst. Schurke dt. Sakrileg: religiöses Vergehen, Kirchenraub, Gotteslästerung
(85) mastígi-a, -ae m Taugenichts
(86) stólid-us, -a, -um dumm, tölpelhaft; Subst. Dummkopf
(87) inept-us, -a, -um untauglich, unpassend; albern, töricht; Subst. Tölpel, Narr, Depp
(88) ridícul-um caput, -i capit-is n (lächerliches Haupt ~) Dummkopf, Kasperlkopf, Trottel
(89) homo impúr-us, hómin-is -i m (unreiner Mensch ~) Dreckskerl, Schwein
(90) homo ímpi-us gottloser Kerl
(91) homo audax, homin-is audác-is frecher Kerl
(92) sycophant-a, -ae m Intrigant (ursprl. ein gewerbsmäßiger Ankläger)
(93) delír-o, -are itr. verrückt sein, spinnen; tr. faseln
(94) trunc-us, -i m Baustamm; Klotz, Tölpel, Idiot

Das Wort Idiot bedeutete im Griech. ursprl. "Privatmann" (d.h. jemand, der kein politisches Amt bekleidet). Daraus entwickelte sich bald die Bedeutung "einfacher Mann von der Straße, Laie" und schließlich "Ungebildeter, Stümper". Nur noch letztere Bedeutung hat das lat. idiota. In der Medizin wurde Idiotie zum Fachwort für Schwachsinn, hochgradige geistige Behinderung. Ein Trottel ist jemand, der trottet, d.h. sich langsam und schwerfällig fortbewegt. Ein Depp ist ein täppischer, d.h. ungeschickter Mensch. Tor hängt mit dösen und Dunst zusammen und bedeutet ursprl. "benebelt, verwirrt".

[Grammatik]

Die substantivierten Adj. und die Subst. werden im Vok. angewendet: stulte (oder gesteigert stultissime). Die Wendungen aus Subst. + Adj. stehen meist im Akk. des Ausrufs: o hominem impurum! Dreckskerl!

[Redewendung]

Noli turbare círculos meos! Störe meine (in den Sand gezeichneten) Kreise nicht!
Das waren die letzten Worte des gerade in ein geometrisches Problem vertieften griechischen Mathematikers Archimedes, gesprochen zu einem der römischen Soldaten, die gerade dabei waren, Syrakus zu erobern. Der Soldat, der Archimedes nicht erkannte, tötete ihn ob dieser Insubordination.


Fußnoten

[1] in caelis: In der Dichtung wird der Pl. oft im Sinne eines Sg. verwendet. Hier hat der Pl. aber vielleicht einen anderen Grund: das hebr. Wort für "Himmel" sieht aus wie ein Plural- oder genauer ein Dualwort. Daraus hat sich eine Theologie von mehreren Himmeln (=Abstufungen der Nähe zu Gott) entwickelt (1Kön 8,27; 2Kor 12,2-4).

[2] D.h. diese Schimpfwörter können die Dummheit des Chremes nicht beschreiben.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 5. Jan. 2022