Michael Neuhold
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Lectio quarta


quarta vierte dt. Quart: viertes Intervall; Quartett: Stück für vier Musiker, Kartenspiel mit je vier zusammengehörigen Karten

1.

[Text]

Der junge Mann Argyrippus verabschiedet sich von seiner geliebten Hetäre Philaénium, die er sich nicht länger leisten kann (er kann das von ihrer Mutter, die zugleich ihre Zuhälterin ist, verlangte Geld nicht herbeischaffen) (Plautus, Asinária [Eselskomödie], 606):

Argyrippus: Vale. Argyrippus: Leb wohl.
Philaénium: Quo próperas? Philaenium: Wohin eilst du?
Argyrippus: Bene vale, apud Orcum te vidébo. Argyrippus: Leb wohl, bei Orkus (=im Totenreich) werde ich dich (wieder)sehen.

[Vokabel]

(1) vale (Imptv. von 2/4 valeo) auf Wiedersehen, lebe wohl, tschüs, adieu
(2) quo wohin?
(3) próper-o, properá-re eilen, sich beeilen
(4) apud (+Akk.) bei
(5) Orcus Orkus (=Gott des Totenreichs), Totenreich, Tod
(1/13) vidé-b-o ich werde sehen (Futur)

[Grammatik]

Der übliche Abschiedsgruß vale (selten valéto) bedeutet etwa "sei gesund, sei wohlauf" (also praktisch kein Bedeutungsunterschied zu salve). Es handelt sich um dasselbe Wort, das wir bereits bei der Frage nach dem Befinden (ut vales?) kennengelernt haben. An mehrere Menschen gerichtet heißt es valéte. Dem vale wird oft ein verstärkendes bene "gut" oder optime "sehr gut" vorangestellt.

2.

[Text]

Plautus, Mercator [Der Kaufmann], 325-327:

Lysimachus: Num quid vis? Lysimachus: Willst du (noch) irgendetwas?
Demipho: Vale. Demipho (den Kopf schüttelnd): Leb wohl.
Lysimachus: Ad portum própero, nam ibi mihi negótium est. Lysimachus: Ich eile zum Hafen, denn dort habe ich etwas zu erledigen.
Demipho: Bene ambuláto. Demipho: Gute Reise. (wörtl. wandere wohl)
Lysimachus: Bene valéto. Lysimachus: Leb wohl.
Demipho: Bene sit tibi. Demipho: Mach's gut.

Vom antiken Zentrum Athens bis zum Hafen Piräus sind es etwa 10 km. Das kann schon als Wanderung oder Reise betrachtet werden.

[Vokabel]

(6) num? etwa? Fragewort, das verneinende Antwort erwartet
(7) áli-quid oder quid (irgend)etwas
(8) vi-s du willst
(9) portus Hafen engl. port
(10) nam denn
(11) ibi dort (vgl. 3/8 ubi?)
(12) negótium Tätigkeit, Geschäft, Aufgabe
(13) ámbul-o, ambulá-re spazieren, wandern, reisen
ambulá-to (Imperativ II) spaziere, wandere, reise
(1/14) s-i-t (er/sie/es) sei, möge sein

[Grammatik]

Die Ausdrucksweise "mir ist eine Tätigkeit" im Sinne von "ich habe eine Tätigkeit" (hier: "ich habe etwas zu tun") kennen wir bereits von der Redewendung nomen mihi est.

Das lateinische Wort für "sein" bedeutet oft auch "vorhanden sein, existieren", "sich an einem Ort befinden, sich aufhalten" und "sich in einem Zustand befinden, sich verhalten". Mihi male est heißt also "es steht schlecht um mich, mir geht es schlecht", tibi bene sit bedeutet "es möge gut um dich stehen, es möge dir gut ergehen".

Valeas "du mögest gesund/wohlauf sein" ist sprachliche Variation zu vale, wie salvus sis zu salve.

3.

[Text]

Phaédria muß sich für zwei Tage von seiner Hetäre Thais trennen (Terenz, Eunuchus, 190-194):

Phaedria: In hoc bíduum, mea Thais, vale. Phaedria: Für diese zwei Tage, meine Thais, leb wohl.
Thais: Mi Phaédria, et tu. Num quid vis áliud? Thais: Mein Phaedria, auch du. Möchtest du noch etwas?
Phaedria: Dies noctésque me ames, me desíderes, me exspectes, de me cógites. Phaedria: Tag und Nacht sollst du mich lieben, sollst du dich nach mir sehen, sollst du auf mich warten, sollst du an mich denken.

[Vokabel]

(1/16) hoc (Neutr. von hic) dieses
(14) bíduum Zeitraum von zwei Tagen
(2/16) mea Fem. zu meus meine
(15) áli-us, áli-a, áli-ud anderer
(ali)quid (s.7) aliud etwas anderes, noch etwas
(16) dies ['di-es] Tag, Tage (Sg. und Pl.) engl. day
(17) nox Nacht
noctes Nächte (Nom. und Akk. Pl.)
(18) -que (an ein Wort angehängt) und
(19) am-o, amá-re lieben
am-e-s du mögest lieben, du sollst lieben
(20) de-síder-o, de-siderá-re ersehnen, sich sehnen nach
(21) ex-spect-o, ex-spectá-re erwarten, warten auf
(22) de (+Abl.) von ... herab, von, über
de me über mich
(23) cógit-o, cogitá-re (de ...) nachdenken (über ...), denken (an ...)

[Grammatik]

Eigenschaftswörter haben wie im Deutschen für die drei Geschlechter unterschiedliche Formen. Daher heißt "mein Geist" meus animus, "meine Beliebtheit" mea gratia, "mein Phaedria" (ein Mann) meus Phaedria (Vok. mi Phaedria), "meine Thais" (eine Frau) mea Thais (Vok. ebenfalls mea Thais).

Um auszudrücken, dass etwas geschehen möge oder soll, verwendet der Lateiner, wo er nicht zur Befehlsform greifen kann oder möchte, den Konjunktiv (Möglichkeitsform) Präsens. Seine Formen lauten:

1.P.Sg. am-e-m víde-a-m ag-a-m véni-a-m s-i-m
2.P. am-e-s víde-a-s ag-a-s véni-a-s s-i-s
3.P. am-e-t víde-a-t ag-a-t véni-a-t s-i-t
1.P.Pl. am-é-mus vide-á-mus ag-á-mus veni-á-mus s-i-mus
2.P. am-é-tis vide-á-tis ag-á-tis veni-á-tis s-i-tis
3.P. am-e-nt víde-a-nt ag-a-nt véni-a-nt s-i-nt

Das Kennzeichen des Konjunktiv Präs. ist bei einigen unregelmäßen Verben, wie z.B. esse, der Vokal -i-, bei den regelmäßen -a-. Die a-Konjugation, die das -a- ja als Stammvokal hat, ersetzt diesen im Konj. Präs. durch -e-.

Es bedeuten: ames "du mögest lieben" (Wunsch) oder "du sollst lieben" (Aufforderung, nahezu bedeutungsgleich mit dem Imperativ), amemus "lieben wir (doch), laßt uns lieben" (Selbstaufforderung). Daneben kann der Konjunktiv auch eine vage Möglichkeit bezeichnen (sog. Potentialis): amet "er/sie/es wird wohl lieben, könnte/dürfte lieben", in der Frage quid agam? "was soll ich tun?"

4.

[Text]

Plautus, Aululária ["Topfkomödie"], 175 f.:

Eunomia: Num quid vis? Eunomia: Willst du (noch) etwas?
Megadorus: Vale. Megadorus (Schüttelt den Kopf): Leb wohl.
Eunomia: Et tu, frater. Eunomia: Auch du, Bruder.

[Vokabel]

(24) frater Bruder

[Grammatik]

quid ist einerseits substantivisches Fragepronomen "was?" ("was willst du?") und andererseits unbestimmtes Fürwort "(irgend-)(et)was" ("willst du was?"). Letzere Verwendung ist aber nur möglich, wenn ein Wort vorausgeht, an das sich quid anlehnen kann, z.B. num. Weitere Anlehnwörter sind: si "wenn", nisi "wenn nicht", ne "dass nicht", ubi "wo; sobald", cum "wenn, als, nachdem; weil; obwohl", quando "wann; weil", quanto "je" und Relativpronomina (bezügliche Fürwörter). Fehlt ein solches Wort, muss ali-quid gesagt werden.

[Redewendung]

Memento mori! Bedenke zu sterben (=dass du sterben mußt)!
Aus dem Mittelalter stammende Aufforderung, der eigenen Sterblichkeit eingedenk zu sein. Heute meist Bezeichnung für ein Ereignis, das den Menschen an seinen Tod erinnert.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 5. Jan. 2022