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Vaticinia im NT
Fast alle Argumente zur Datierung der Evv beziehen sich auf vaticinia (Ankündigungen, Prophezeiungen) Jesu. Wenn man Jesus die Gabe der Prophetie nicht zutraut, müssen die Prophezeiungen ex eventu, d.h. nach und auf Grund des bereits stattgefundenen Ereignisses, fabriziert worden sein.
Dass nicht alle ntl. Prophezeiungen ex eventu sind, ersieht man aus Offb 18: der angekündigte Untergang Babylons (d.h. des Sündenbabels Rom) ist nicht eingetreten. Stattdessen ist Rom nach dem Untergang Jerusalems zum Zentrum der westlichen Christenheit geworden. (Das apokalyptische Denken versperrt manchmal die Sicht auf Gottes Absichten und Möglichkeiten.)
Aber selbst, wenn man Jesus die Gabe der Prophetie nicht zutraut, stellt sich die Frage, ob man nicht auch mit einer apokalyptisch-endzeitlichen Denkweise die Zerstörung Jerusalems und des Tempels vorhersagen konnte. Schließlich war genau das schon einmal geschehen.
Jesus kündigt bei einem Besuch des Tempels an, dass nicht ein Stein auf dem anderen bleiben werde. Man könnte diesen Vers auch als Ankündigung einer Naturkatastrophe – z.B. eines Erdbebens – verstehen. Mk 13,2 lautet (par. Mt 24,2; Lk 21,6):
Und Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese großen Bauwerke? Kein Stein wird [hier] auf dem andern gelassen werden, der nicht zerstört werden wird.
Doch in Lk 19,43f spricht Jesus eindeutig von Belagerung und Zerstörung durch Feinde:
43 Denn es werden Tage über dich kommen, und deine Feinde werden dir einen Palisadenwall aufwerfen, und sie werden dich rings einschließen und werden dich von allen Seiten bedrängen, 44 und sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen, und sie werden keinen Stein in dir auf dem anderen lassen, dafür, dass du die Zeit deiner Heimsuchung (d.h. in der Gott auf dich geschaut, dich besucht hat) nicht erkannt hast.
Ähnlich auch in Lk 21,20.24:
20 Wenn ihr Jerusalem von Heeren umzingelt seht, dann erkennt, dass ihre Verwüstung nahe ist. 24 und sie werden durch Schwertes Schärfe fallen und werden kriegsgefangen zu allen (Heiden-)Völkern weggeführt werden, und Jerusalem wird zertreten sein von (Heiden-)Völkern, bis die Zeiten der (Heiden-)Völker erfüllt worden ist.
Lk 23,27-31 hingegen ist zu unbestimmt, um eindeutig der Katastrophe von 70 zugeordnet werden zu können.
27 Es folgte ihm aber eine zahlreiche Menge des Volks und von Frauen, die sich schlugen (= wehklagten) und ihn beweinten. 28 Jesus aber drehte sich zu ihnen um und sagte: Töchter Jerusalems, weint nicht um mich; vielmehr weint um sich (= euch) selbst und um eure Kinder, 29 denn siehe, es werden Tage kommen, an denen sie sagen werden: Selig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht genährt haben. 30 Dann werden sie anfangen, zu den Bergen zu sagen: Fallt auf uns! und zu den Hügeln: Bedeckt uns! 31 Denn wenn sie dies am saftigen Holz tun, was soll am trockenen geschehen?
Auch einige Gleichnisse werden von Auslegern so verstanden, dass in ihnen die Zerstörung Jerusalems angekündigt ist. Z.B. im Gleichnis von der königlichen Hochzeit Mt 22,7:
Und der König wurde zornig, und er schickte seine Heere und vernichtete jene Mörder und zündete ihre Stadt an.
Mt nimmt das Gleichnis von Lk 14,16-24 (oder der Quelle, aus der auch Lk schöpft), macht aber aus dem Menschen, der zu einem Abendessen einlädt, einen König, der für seinen Sohn eine Hochzeit ausrichtet. Dabei kümmert Mt sich nicht darum, dass die Geladenen und ihre Ausflüchte überhaupt nicht zu den Gästen eines königlichen Hochzeitsfestes (man erwartet befreundete Staatsmänner, Minister, Generäle, die wohl kaum auf den Acker gehen) passen. Von daher kommt das Senden der Heere überraschend. Aber deutlicher als Lk will Mt sagen, dass Gott (der König) mit Jesus (dem Sohn) die Heilszeit anbrechen hat lassen (die Hochzeit). Man kann die Zerstörung der Stadt der Mörder als Allegorie auf die Zerstörung Jerusalems deuten. Aber wie zwingend ist das? Sind für Mt die römischen Heere, die Jerusalem vernichteten, wirklich von Gott gesandt?
Lk hat keinen Vers, der Mt 22,7 entspricht. Hier heißt es nur:
Ich sage euch nämlich, dass keiner jener geladenen Männer mein Gastmahl schmecken wird.
Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels wird in den Evv und der Apg nirgends als bereits erfolgt bezeichnet. Das ist zwar ein argumentum e silentio und hat daher nur geringe Beweiskraft, aber bemerkenswert ist es doch. Müsste man nach 70 nicht wesentlich klarere Bezugnahmen auf dieses Ereignis erwarten? Warum wird nirgends in den Evv gesagt, dass das von Jesus angekündigte Gericht dann auch tatsächlich eingetreten ist?
Ähnlich wird im Gleichnis von den Weingärtnern, die dem Besitzer die Pacht nicht zahlen wollen und sogar seinen Sohn töten, in Mt 21,40f gesagt:
40 Wenn nun der Besitzer des Weinbergs kommt, was wird er jenen Winzern tun? 41 Sie sagen zu ihm: er wird die Bösewichte böse vernichten und den Weinberg anderen Winzern verpachten, die ihm die Früchte entrichten zu ihren Zeiten.
Dies Wort findet sich in fast identischer Form in Mk 12,9:
Was wird [also] der Besitzer des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Winzer vernichten und wird den Weinberg anderen geben.
Deutet man dies auf den Ausgang des Jüdischen Kriegs und die Zerstörung Jerusalems, hat man eine Handhabe, um auch Mk nach 70 zu datieren. Lk 20,16 fügt als Reaktion der Zuhörer ein: „Als sie es hörten, sagten sie: es möge nicht geschehen.“ (Elberfelder: „Auf keinen Fall!“)
Manche Ausleger verstehen Mk 10,39f als Ankündigung des Martyriums der Zebedäussöhne:.
39 Jesus aber sagte zu ihnen: den Becher, den ich trinke, werdet ihr trinken und mit der Taufe, mit der ich getauft werden, werdet ihr getauft werden; 40 das Sitzen aber zu meiner Rechten oder zur Linken zu geben, ist nicht meine Sache, sondern denen es bereitet (worden) ist.
Allerdings ist dieses Textverständnis nicht zwingend. Es könnte auch allgemein um Teilhabe an Leiden und Martyrium gehen. Von Jakobus erfahren wir aus Apg 12,2, dass er von Herodes Agrippa I. (reg. Judäa 41-44) hingerichtet wurde. Von einem Martyrium des Johannes ist uns hingegen nichts bekannt.
Autor: E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 25. Juni 2025