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Die eherne Schlange


Predigttext für den Sonntag Reminiszere, den wir danach noch einmal im Bibelkreis besprochen haben, war Num 21,4-9, die Geschichte von der ehernen Schlange. (Ehern bedeutet „bronzen“ oder „eisern“.) Bei der Vorbereitung habe ich auch diverse, überwiegend wissenschaftliche Kommentare konsultiert und war enttäuscht. Denn diese bieten zwar viel literarkritische Theorie, daneben noch Hinweise zur religionsgeschichtlichen Bedeutung der Schlange, aber sonst wenig Erhellendes zum Text. Wenn man dann noch den Text als ätiologische Erzählung zur Erklärung von 2Kön 18,4 identifiziert hat, braucht man sich bequemerweise weiter keine Gedanken über die Geschichte zu machen.

Text

4 וַיִּסְעוּ מֵהֹר הָהָר דֶּרֶךְ יַם־סוּף לִסְבֹב אֶת־אֶרֶץ אֱדוֹם Da brachen sie auf vom Berg Hor, den (od. auf dem) Weg des Schilfmeeres, um das Land (von) Edom zu umgehen.
וַתִּקְצַר נֶפֶשׁ־הָעָם בַּדָּרֶךְ׃ Da wurde kurz die Seele des Volkes auf dem (od. über den) Weg.
5 וַיְדַבֵּר הָעָם בֵּאלֹהִים וּבְמֹשֶׁה Da redete das Volk gegen Gott und gegen Mose:
לָמָה הֶֽעֱלִיתֻנוּ מִמִּצְרַיִם לָמוּת בַּמִּדְבָּר Warum hast du uns heraufgebracht aus Ägypten, damit wir in der Wüste sterben?
הֶֽעֱלִיתֻנוּ wird als 2.m.Pl. „ihr habt uns heraufgebracht“ verstanden, aber wieso -תֻ für -תֶּם eintreten kann, finde ich in keiner Grammatik erklärt. Ich ziehe es vor, -תָ 2.m.Sg. „du hast …“ zu lesen (wie Ex 17,3). Vgl. Sam. ࠄࠅࠑࠀࠕࠍࠅ = הֹוצֵאתָנוּ hôṣêtānû „du hast uns herausgeführt“, LXX ἐξήγαγες ἡμᾶς ds.
כִּי אֵין לֶחֶם וְאֵין מַיִם Denn es gibt kein Brot und kein Wasser,
וְנַפְשֵׁנוּ קָצָה בַּלֶּחֶם הַקְּלֹקֵל׃ und unsere Seele ekelt es vor dem minderwertigen Brot (od. Speise).
קְלֹקֵל qeloqel ist ein hapax legomenon, es stammt vermutlich von der Wurzel קלל „gering, verächtlich sein“ und bedeutet daher „gering, dürftig, minderwertig“ o.ä.
6 וַישַׁלַּח יְהוָה בָּעָם אֵת הַנְּחָשִׁים הַשְּׂרָפִים Da schickte JHWH die Saraf-Schlangen in das Volk.
וַיְנַשְּׁכוּ אֶת־הָעָם Da bissen sie das Volk.
וַיָּמָת עַם־רָב מִיִּשְׂרָאֵל׃ Da starb viel Volk aus Israel.
7 וַיָּבֹא הָעָם אֶל־מֹשֶׁה Da kam das Volk zu Mose.
וַיֹּאמְרוּ Da sagten sie:
חָטָאנוּ כִּי־דִבַּרְנוּ בַיהוָה וָבָךְ Wir haben gesündigt, dass wir geredet haben gegen JHWH und gegen dich.
הִתְפַּלֵּל אֶל־יְהוָה וְיָסֵר מֵעָלֵינוּ אֶת־הַנָּחָשׁ Bete zu JHWH, und er möge wegnehmen (d.h. dass er wegnehme) von uns die Schlange.
וַיִּתְפַּלֵּל מֹשֶׁה בְּעַד הָעָם׃ Da betete Mose für das Volk.
8 וַיֹּאמֶר יְהוָה אֶל־מֹשֶׁה Da sagte JHWH zu Mose:
עֲשֵׂה לְךָ שָׂרָף וְשִׂים אֹתוֹ עַל־נֵס Mache dir einen Saraf und setze ihn auf eine Signalstange.
וְהָיָה Und es geschieht (d.h. wird/soll geschehen):
כָּל־הַנָּשׁוּךְ וְרָאָה אֹתוֹ וָחָי׃ Jeder Gebissene, und sieht ihn (scil. den Saraf), und er lebt (d.h. wenn er ihn sieht, wird er am Leben bleiben).
9 וַיַּעַשׂ מֹשֶׁה נְחַשׁ נְחֹשֶׁת Da machte Mose eine Schlange aus Bronze (od. Kupfer).
וַיְשִׂמֵהוּ עַל־הַנֵּס Da setzte er sie auf die Signalstange.
וְהָיָה Und es geschieht (d.h. es geschah):
אִם־נָשַׁךְ הַנָּחָשׁ אֶת־אִישׁ וְהִבִּיט אֶל־נְחַשׁ הַנְּחֹשֶׁת וָחָי׃ Wenn die Schlange jemanden (wörtl.: einen Mann) biss und er schaute hin auf die Schlange aus Bronze, und er lebte (d.h. dann blieb er am Leben).

Situation

Die Israeliten sind von Mose aus Ägypten herausgeführt worden, haben auf wunderbare Weise das Schilfmeer durchquert und am Berg Sinai/Horeb das Gesetz empfangen. Sie senden Kundschafter nach Kanaan, die berichten, dass in dem Land zwar wirklich Milch und Honig fließen, aber dass die Bewohner zu stark und zu zahlreich sind, um das Land einzunehmen (Num 13,28f.31-33).

Das Volk schreit, weint, murrt und erwägt, wieder nach Ägypten zurückzukehren. Gott verzeiht ihnen zwar diese Lästerung und diesen Unglauben, aber er verfügt als Konsequenz, dass diese Generation nicht in das gelobte Land kommen wird. Die Israeliten müssen 40 Jahre in der Wüste ausharren, bis diese Generation gestorben ist (Num 14,22f. 29-33). Sie verbringen die meiste Zeit wohl in der Oase Kadesch-Barnea an der Grenze zwischen Negev und Sinai.

Kadesch-Barnea wird heute üblicherweise in عين القديرات ʿAin al-Qudairāt, ʿĒn el-Qudērāt verortet (30°38'33.8"N 34°24'49.4"E, Google Maps El Godayrat Spring, OpenTopoMap Ain Al Qudayrat). Das liegt auf dem Sinai (Ägypten), rund 8 km von der israelischen Grenze entfernt. Caveat für Benutzer von Google Maps: Das schon bei mittlerer Zoomstufe an der Grenze zum Sinai angezeigte Kadesh Barnea hat nichts mit dem hier in Rede stehenden zu tun. Es handelt sich offenbar vielmehr um einen Ortsteil der israelischen Siedlung Nitzanei Sinai oder einen alternativen Namen für sie.

Manche identifizieren Kadesch-Barnea (wegen der Namensähnlichkeit) auch mit der 9 km südöstlich von En el-Quderat gelegenen kleinen Oase عين قُدَيْس ʿAin Qudais, ʿĒn Qudēs (30°35'01.0"N 34°29'03.0"E, Google Maps El Qadees Spring, OpenTopoMap عين قديس). (Hebr. קָדֵשׁ qādeš wohl zur Wurzel qdš „geheiligt, geweiht sein/werden“, vgl. arab. قدس qudus und قديس qiddîs „heilig“). Flavius Josephus scheint die Nabatäerstadt Petra für Kadesch-Barnea gehalten zu haben (s.u. zum Berg Hor). Deshalb verorten es manche Forscher dort. Manche nehmen auch an, es habe zwei Kadeschs gegeben, ein westliches im Sinai (En el-Quderat?) und ein östliches in der Araba (Petra).


Negev, Sinai, Araba: oben links das Mittelmeer, oben Mitte das Tote Meer, unten der nördlichste Zipfel des Golfs von Akaba.– Quelle: Knowing the Bible/ Bible Maps .– Urheber: © 2020 Knowing the Bible (topography courtesy of USGS).– Lizenz: „You have the right to freely reproduce and redistribute these maps for personal, teaching, and non-commercial purposes (not sold for a financial profit). Nor are you allowed to insert them into a product, like a book, for profit. The copyright must not be removed from the maps. No part of these maps may be claimed, reproduced, or transmitted for commercial purposes (sold for a financial profit) (see Terms and Conditions). The topography for the maps is provided courtesy of the USGS.“– Bearbeitung: Einige Beschriftungen entfernt (Horma, Hor), einige hinzugefügt (Beerscheba, Araba), einige Wadis herausretouchiert, beschnitten, verkleinert.

Nach vierzig Jahren brechen die Israeliten wieder auf, um zum gelobten Land zu ziehen. Der Plan ist offenbar, das Land Kanaan nicht von Süden her einzunehmen, sondern von Osten (wie es später Josua getan hat). Dazu wollen sie um die Südspitze des Toten Meeres herum durch edomitisches Gebiet ins Ostjordanland ziehen. Sie bitten die Edomiter um Erlaubnis, ihr Gebiet durchqueren zu dürfen, aber die Edomiter verweigern ihnen diese (Num 20,14-21).

Die Israeliten brechen auf und kommen zum Berg Hor. Dort stirbt Aaron, sein Priesteramt geht auf seinen Sohn Eleasar über. Die Lage des Berges ist unbekannt (der Name הֹר hor bedeutet wohl schlicht הָר hār „Berg“). Nach der Erzählung in Num 20-21 muss er im Negev / Sinai liegen, wohl nicht allzu weit von Kadesch-Barnea entfernt. 20,23 heißt es, der Berg liege an der Grenze des Edomiterlandes. Dasselbe wird 20,16 auch schon von Kadesch gesagt.

Auch die Angaben im Itinerarium Num 33,41ff helfen nicht wirklich weiter, wonach die Israeliten vom Berg Hor nach Zalmona ziehen, dann nach Punon, Obot, Ije-Abarim. Punon wird heute mit Chirbat Faynan am östlichen Rand der Araba identifiziert. Schon Flavius Josephus setzt den Berg, auf dem Aaron starb, in die Nähe von Petra (Ios. ant.Iud. 4,82f [4,4,7]). Und auch Eusebius' Onomastikon verortet den Berg Ōr πλησίον Πέτρας πόλεως „nahe der Stadt Petra“ (Eus. Onom. s.v. Ὦρ). Diesen Berg hat muslimische Traditon mit dem Ǧebel nebī Hārūn (30°19'03.3"N 35°24'44.1"E, Google Maps, OpenTopoMap جبل النبي هارون) identifiziert. Aber das passt mit Num 21 nicht zusammen. Robinson und andere haben sich für den Ǧebel Madurah (30°49'55.4"N 35°03'24.7"E, Google Maps, OpenTopoMap הר צין), rund 65 km ostnordöstlich von Kadesch-Barnea, stark gemacht. Nur 17 km nordöstlich von En el-Quderat liegt der bei Google Maps und OpenStreetMap namenlose ʿAmāret Churāše am Nachal Nitsana (30°45'01.0"N 34°33'04.0"E, Google Maps, OpenTopoMap), der von Kellenberger als weiterer Kandidat genannt wird.

Der TgPsJon Num 21,4 übersetzt Hor mit טוורוס אומנוס ṭawrôs ʾûmānôs, d.i. Tauros Amanos, der Gebirgszug östlich des Golfs von İskenderun (türk. Nur Dağları) im Süden der Türkei. Das passt geographisch natürlich überhaupt nicht.

V.4

Da die Edomiter den Israeliten den Durchzug durch ihr Gebiet untersagt haben, müssen die Israeliten das Edomiterland umgehen. (Sich gewaltsam den Durchzug zu erzwingen ist den Israeliten möglicherweise nach dem Verständnis von Dtn 2,4f von Gott verboten worden.) Je nachdem, wo der Berg Hor liegt, ziehen sie daher entweder durch den südlichen Negev bzw. die Sinaiwüste (je nachdem, wo man die Grenze ansetzt) oder die Araba hinauf (das Tote Meer liegt über 400 m unter dem Meeresspiegel, der Golf von Akaba hingegen auf Meeresspiegelniveau), jedenfalls Richtung Golf von Akaba. (Das dürfte hier mit „Weg des Schilfmeeres“ gemeint sein.)

Dass die Seele kurz wurde, bedeutet, dass die Israeliten ungeduldig, ungehalten, verdrossen, mutlos wurden. Statt dass es zum gelobten Land geht, müssen sie erneut viele Kilometer durch heiße, staubige, schattenlose Geröll- und Gesteinswüste marschieren. Es ist leicht, vom Schreibtisch aus über die kleinmütigen Israeliten zu urteilen. Aber im Sommer hat es im Süden Israels 45°C, die Steine heizen sich auf, und nachmittags fühlt man sich wie im Backofen. Weh dem, der nicht genug zum Trinken dabei hat.

V.5

Die Israeliten beginnen wieder zu klagen, es ist ein ähnlicher Vorwurf, wie ihn schon ihre Väter gegen Gott und Mose gerichtet haben (Num 14,2f): Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Wir werden alle in der Wüste sterben. Hier gibt es kein Wasser und nichts zu essen – außer Manna (das ist wohl mit dem „minderwertigen Brot“ gemeint), und das haben wir so satt. (Die Gute Nachricht übersetzt: „dieses elende Manna hängt uns zum Hals heraus!“)

V.6

Was jetzt passiert, ist überraschend. Man würde so etwas erwarten wie: Mose schreit zum Herrn, der lässt auf wunderbare Weise Wasser in der Wüste sprudeln oder Wachteln vom Himmel fallen oder was immer. Stattdessen schickt er Giftschlangen, die die Israeliten beißen, woran viele sogar sterben.

Warum tut Gott das? Um die Israeliten zu bestrafen? Aber ihr Problem wird damit nicht gelöst, es kommt vielmehr ein weiteres hinzu.

Ich kann auch nur Vermutungen äußern: Vielleicht weil die Israeliten drauf und dran sind, mit ihrer „Ägyptennostalgie“ (wie Seebass es nennt), das Unternehmen gelobtes Land zu gefährden. Wenn sie weiter dieselbe Gesinnung an den Tag legen, wie schon ihre in der Wüste gestorbenen Väter, dann wird es nichts mehr mit der Landnahme. Die hat Gott aber den Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob zugesagt. Gott muss die Israeliten mit einem drastischen Mittel wachrütteln.

Was Saraf-Schlangen sind, wissen wir nicht. Wenn es kein Fremdwort ist, kommt es von der Wurzel שׂרף „brennen“, weshalb viele Übersetzungen „feurige Schlangen, Feuerschlangen, Brandschlangen“ o. ä. haben. Die Bezeichnung kann auf das Aussehen der Schlangen gehen oder auf die brennende Wirkung des Bisses. Daselbe Wort im Pl. (Serafim) bezeichnet in Jes 6 die mit drei Flügelpaaren ausgestatteten Wesen über dem Thron Gottes.


Brugschs Zeichnung eines sfr (Hiero­glyphisch-demotisches Wörter­buch. Bd. 7. Leipzig: Hinrichs, 1882).

Hebr. שָׂרָף śārāp̱ (Pl. שְׂרָפִים śerāp̱îm) könnte auch von äg. śfr stammen, das durch Metathese zu *śrf geworden sein müsste; s.

Das würde auch zu Jes 14,29 und 30,6 passen, wo beide Male von einem fliegenden Saraf (שָׂרָף מְעוֹפֵף) die Rede ist, einmal neben צֶפַע ṣǽp̱aʿ „giftige Schlangenart“ (Luther 2017 „giftige Natter“), einmal neben אֶפְעֶה ʾæp̱ʿæ̂ „Otter“. Fliegende Schlangen dürften zum Seemannsgarn oder Jägerlatein der Beduinen gehören, desert legends wie Herodots Riesenameisen in der indischen Wüste (3,102-105).

V.7

Der Schuss vor den Bug hat seine Wirkung nicht verfehlt: die Israeliten sehen ein, dass sie sich versündigt haben. Sie ersuchen Mose um Fürbitte bei Gott, damit der die Schlangen wieder wegnimmt.

V.8

Jetzt passiert noch einmal etwas Überraschendes: statt die Schlangen wieder verschwinden zu lassen, befiehlt Gott dem Mose, einen Saraf zu machen und auf einer hohen Stange zu befestigen. Wenn jemand gebissen wurde, soll er die Schlange anschauen, dann wird er am Leben bleiben.

Warum so kompliziert? Warum lässt Gott die Schlangen nicht einfach wieder verschwinden? Wieder kann ich nur vermuten: weil das zu billig wäre. Gott möchte dass jeder einzelne, der gebissen wurde, einen persönlichen Glaubensakt setzt. Kein Verstecken in der Anonymität der Volksmasse, jeder einzelne ist gefordert. Die Israeliten sollen auch lernen, wo sie hinschauen, wenn Unannehmlichkeiten oder Schwierigkeiten (wobei diese Worte ziemlich verharmlosend sind angesichts einer Wüstenwanderung) auftauchen.

V.9


Uräenfries im Grabkomplex des Djoser in Sakkara.– Quelle: Wikipedia.– Urheber: Berthold Werner, 2010.– Lizenz: GFDL 1.2, CC BY 3.0 Deed.– Bearbeitung: beschnitten, verkleinert, Kontrast erhöht, geschärft.

Gesagt, getan: Mose macht eine Schlange aus Kupfer oder Bronze (hebr. נְחֹשֶׁת neḥošæt kann beides bedeuten) und befestigt sie oben an einer Stange, sodass sie von allen gesehen werden kann. Und tatsächlich: wenn ein Gebissener auf die Schlange schaut, bleibt er am Leben. Die Schlange ist dabei nach Keil „Bild der durch Gottes Gnade unschädlich gemachten Giftschlangen“.

Es versteht sich von selbst, dass hier keine Magie im Spiel ist; die Schlange auf der Stange heilt vom Biss, weil Gott das so will und verfügt hat. (Sap 16,7 ὁ γὰρ ἐπιστραφεὶς οὐ διὰ τὸ θεωρούμενον ἐσῴζετο, ἀλλὰ διὰ σὲ τὸν πάντων σωτῆρα. „Denn wer sich hinwandte [zur ehernen Schlange], wurde gerettet nicht wegen des Angeschauten, sondern wegen dir, dem Retter aller.“) Nutzt Gott den Umstand, dass die Israeliten die Schlange (insbes. die Uräusschlange, die ägyptische Kobra, Naja haje) aus Ägypten als apotropäisches Symbol kennen? Warum gerade eine Schlange? Weil similia similibus curantur („Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt“)? Weil die Schlange immer schon als den Göttern der Heilkunst zugehörig betrachtet wurde (s. die Schlange am Äskulapstab)? Aber Dillmann meint: „Dass die Schlange an sich als Symbol der Heilkraft gegolten habe, davon ist in der vorliegenden Erzählung keine Spur.“ Die Religionswissenschaftler haben etliche Erklärungsversuche vorgebracht, aber keiner verfängt hier wirklich. Nicht zuletzt deshalb ist man versucht, in der Erzählung eine Ätiologie für 2Kön 18,4 (Hiskia zerschlägt die נְחֻשְׁתָּן neḥuštān „Bronzeling“ genannte eherne Schlange, die Mose gemacht hatte, weil ihr die Israeliten Räucheropfer darbrachten) zu sehen.

Wir können vieles nicht zufriedenstellend erklären. Die Geschichte ist deshalb Teil der lutherischen Perikopenreihe, weil sich Jesus im Gespräch mit Nikodemus auf sie bezieht (Joh 3,14f): „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder Glaubende in ihm ewiges Leben hat.“ Die Erhöhung des Menschensohnes bedeutet zunächst ganz buchstäblich das Hinaufheben ans Kreuz (vgl. Joh 12,32f). Wer im Glauben seinen Blick auf den Gekreuzigten richtet, wird vom tödlichen Biss der Sünde geheilt, er bekommt ewiges Leben.

Kommentare und Aufsätze

Keil, Carl Friedrich: Biblischer Commentar über die Bücher Mose's. Bd. 2: Leviticus, Numeri Und Deuteronomium.– Leipzig: Dörffling und Franke, 1862. (Biblischer Commentar über d. A. T.) S. 280-282
Ein alter Kommentar der apologetischen Richtung, der sich jeglicher Literarkritik entschlägt. Die Schlange wird hier allzu rasch zum Typus des Menschensohnes gemacht. Weil es in der Bibel keine Widersprüche geben kann und die Stationenliste Num 33 die Möglichkeiten für die Lage des Berges Hor doch sehr einschränkt, hält Keil an der Identifikation mit dem Ǧebel nebi Hārūn unbeirrt fest (S. 277f).
Dillmann, August [; Knobel, August]: Die Bücher Numeri, Deuteronomium und Josua. 2., neu bearb. Aufl.– Leipzig: Hirzel, 1886. (Kurzgef. exeget. Handbuch zum A. T., 13. Liefg.) S. 118-120
Moderat literarkritisch mit allerdings ungewohnten Siglen (A = Priesterschrift, B = Elohist, C = Jahwist). Bietet zum Problem der Schlange reiche Literaturhinweise. Ist bei der Identifkation des Hor vorsichtig: „Man wird auf den Nachweis der Localität vorerst verzichten müssen“ (S. 116). Ansonsten sehr konventionell.
Holzinger H[einrich]: Numeri.­– Tübingen, Leipzig: Mohr, 1903. (Kurzer Hand-Commentar zum A. T., Abt. 4) S. 89; 92f
Literarkritisch mit den gewohnten Siglen. Abzulehnen die religionsgeschichtliche Deutung der Schlange: „Doch scheint ein […] bei den Arabern nachgewiesener Aberglaube hereinzuspielen, nämlich dass das Metallbild eines Schädlings die Schädlinge fernhält (vgl. auch I Sam 6 4 f.).“ Aber die eherne Schlange hält die Schädlinge nicht fern (wie Seebass richtig einwendet), sie heilt vom giftigen Biss.
Gray, George Buchanan: A critical and exegetical commentary on Numbers.– Edinburgh: Clark, 1912. (The International Critical Commentary). S. 274-278
Sieht in der Erzählung lediglich eine beschönigende Ätiologie für ein Kultobjekt, das nicht aus der Jahwe-Verehrung stammt. Referiert einige religionswissenschaftliche Erklärungsversuche für die Verehrung dieses Objekts (die, mit Verlaub gesagt, tw. ein kompletter Schmarrn sind). Zur Lage des Hor: „the traditional site, near Petra, […] is certainly wrong.“ (S. 270)
Sakenfeld, Katharine Doob: Journeying with God. A commentary on the book of Numbers.– Grand Rapids: Eerdmans, 1995. (International theological commentary) S. 117f
Allgemeinverständlich, kurz. Weist auf die Notwendigkeit der persönlichen Initiative des einzelnen Israeliten hin, damit er geheilt wird.
Seebass, Horst: Numeri. Bd. 1.– Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl., 2010. (Biblischer Kommentar – A. T.) S. 311-327
Exzessiv literarkritisch. Will die VV. 4b.5a*.b.6aβ-7.9 als älteren Bestand der Erzählung (aus JE stammend) erkannt haben, wonach also ursprl. nicht erzählt wurde, dass Gott die Schlangen geschickt habe und auch nicht, dass er Mose den Auftrag zur Herstellung der ehernen Schlange erteilte. Mose handelte sozusagen in Eigeninitiative wie Elischa in 2Kön 2,19-22 u.ö. Die Bearbeitung 6aα.8 sollte Mose gegen Idolatrieverdacht (wegen 2Kön 18,4) in Schutz nehmen, 4a.*5a seien redaktionelle Zusätze.
Winer, Georg Benedikt: Biblisches Realwörterbuch. Zum Handgebrauch für Studirende, Candidaten, Gymnasiallehrer und Prediger. Bd. 2.– 3. sehr verb. u. verm. Aufl. Leipzig: Reclam, 1848. s.v. Schlange, Eherne, S. 414f
Referiert verschiedene ältere Erklärungsversuche. Nicht mehr relevant, aber in älteren Kommentarwerken noch (meist ablehnend) zitiert.
Robinson, George L.: „The True Mount Hor“, The Biblical World, 31/2 (1908), S. 86-100
Identifiziert den Hor mit Ǧebel Madurah.

Anhang: Schlangen in Palästina

Es ist gar nicht so einfach herauszufinden, welche Giftschlangen im Negev und der Araba vorkommen. Die Palästinaviper ist zwar für die meisten tödlichen Schlangenbisse in Israel verantwortlich, aber nur weil sie so häufig ist und in der Nähe menschlicher Siedlungen lebt. In der Wüste kommt sie m.W. nicht vor. Ich verlinke auf den jeweiligen Wikipediaartikel, auch der moderne hebr. Name ist nach Wikipedia gegeben (die Tranksskription orientiert sich an der heutigen Aussprache).


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 9. März 2024