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Fäkalsprache im Evangelium?


Meine Frau hat die Zeitschrift Aufatmen aus dem SCM Bundesverlag abonniert. Auf der Rückseite des Hochglanzumschlags sind immer einige Zitate mehr oder weniger Prominenter abgedruckt. In der Ausg. 3/2021 war u.a. eines des österreichischen Schriftstellers Peter Turrini, in dem er sinngemäß sagt, die Welt werde nicht an Ozonlöchern zugrunde gehen, sondern an Arschlöchern. (Wörtlich sagte er übrigens: „Was uns bedroht, sind nicht die Ozonlöcher, sondern die Arschlöcher.“)

Es war vorherzusehen, dass die FPÖ, auf deren Politiker diese Aussage in erster Linie gemünzt war, sie nicht widerspruchslos hinnehmen würde. Aber natürlich haben sich auch einige Fromme an dem Satz gestoßen. Ein Paar schrieb in einem Leserbrief an Aufatmen: „Das Zitat von Peter Turrini in 3/21 ist in dieser Zeitschrift einfach nur fehl am Platz! 1. ist der Begriff aus der Fäkalsprache keine Werbung für christliches Benehmen und 2. geht die Welt nicht an irgendjemandem zugrunde, sondern an den Folgen der Sünde, siehe Jak 1,15.“ (Leserbrief der Ausg. 4/2021, S. 94c).

Erstens verblüfft mich die Selbstverständlichkeit, mit der hier bürgerliches Wohlverhalten und „schön sprechen“ mit christlichem Benehmen gleichgesetzt werden. Und zweitens bezweifle ich, dass sich die Briefschreiber mit den Hintergründen des Zitats auseinandergesetzt haben. Urteilen ohne Kenntnis des Sachverhalts ist auch keine Werbung für christliches Benehmen. Turrini, Sohn eines italienischen Einwanderers, geißelte in einer Rede vor dem SPÖ-Parlamentsklub den Zynismus der Mächtigen, das finanzielle Aushungern von Flüchtlingen in Österreich, die Diskriminierung und Kriminalisierung von Hilfsorganisationen in Ungarn, die Forderung nach „Konzentrationslagern“ für Migranten, das Ertrinkenlassen von Flüchtlingen im Mittelmeer, den unverschämten Postenschacher der österr. Regierung, ihre Verachtung für die Arbeiter, die sie andauernd des Sozialschmarotzertums verdächtigen, u.a.m.[1]. Auch aus christlicher Sicht sind die Ausbeutung der sozial Schwachen („Witwen und Waisen“) und das Schüren von Fremdenhass, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus Sünden, und zwar sehr schwere. Glauben die Briefschreiber allen Ernstes, man könne die Sünde von den „Arschlöchern“, die sie begehen, trennen? Turrinis Kritik an der der türkis-blauen Regierung unter Kurz und Strache erinnert mich stark an Hes 34 und die Hirten, die das Fett essen, aber die Herde nicht weiden.

Wieso kennen viele Menschen, die sich bibeltreu dünken, nur eine Angst, nämlich die vor dem Kommunismus, während ihnen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit kein Problem sind? Viele Wohlstandschristen verwechseln ihren politischen Konservativismus und ihre Überzeugung, dass ihr Reichtum gottgewollt ist, mit Christentum. War es Zufall, dass der damalige ÖVP-Chef Kurz während des Wahlkampfs auf einer Großveranstaltung der evangeliken Bewegung Awakening Europe auftauchte und dann ihr Gründer Ben Fitzgerald zum Gebet für den späteren Bundeskanzler aufrief?[2] Einen Bundeskanzler, der schließlich zurücktreten musste, weil nicht von der Hand zu weisende Vorwürfe laut geworden waren, dass sein politischer Aufstieg nicht nur der Erhörung von Gebeten zu verdanken war.

Im folgenden soll es um ein Wort aus dem Fäkalbereich gehen, das Jesus einmal in den Evangelien verwendet. Gelegentlich des Vorwurfs der Pharisäer und Schriftgelehrten, dass sich die Jünger vor dem Essen nicht die Hände waschen, thematisiert Jesus auch den menschlichen Ausscheidungsprozess:

Mt 15,17 οὐ νοεῖτε ὅτι πᾶν τὸ εἰσπορευόμενον εἰς τὸ στόμα εἰς τὴν κοιλίαν χωρεῖ καὶ εἰς ἀφεδρῶνα ἐκβάλλεται; Versteht ihr nicht, dass alles, was in den Mund hineingeht, in den Bauch kommt und in den Abort ausgeworfen wird?
Mk 7,18f (18) οὐ νοεῖτε ὅτι πᾶν τὸ ἔξωθεν εἰσπορευόμενον εἰς τὸν ἄνθρωπον οὐ δύναται αὐτὸν κοινῶσαι, (19) ὅτι οὐκ εἰσπορεύεται αὐτοῦ εἰς τὴν καρδίαν ἀλλ’ εἰς τὴν κοιλίαν, καὶ εἰς τὸν ἀφεδρῶνα ἐκπορεύεται […]; Versteht ihr nicht, dass alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht verunreinigen kann, weil es nicht in sein Herz hineingeht, sondern in den Bauch, und in den Abort hinausgeht?

Das Thema ist offenbar so unappetitlich, dass Menge übersetzt: „daß alles […] auf dem natürlichen Wege wieder ausgeschieden wird?“. Auch die Einheitsübersetzung 2006 hat „und dann wieder ausgeschieden wird?“ (so ungefähr auch Basis-Bible, Gute Nachricht, Neue Genfer Übers.). Luther 2017 hat immerhin „und wird danach in die Grube ausgeleert?“ („Grube“ auch in der Zürcher Bibel). Einzig die Elberfelder 2001 bleibt am Text: „daß alles […] in den Abort ausgeworfen wird?“. Ganz ähnlich bei den mir verfügbaren engl. Übersetzungen. Lediglich die King James wagt ein „is cast out into the draught?“ (Aber ach: bei diesem Wort helfen weder Langenscheidt noch Pons. Wiktionary erklärt: „An outhouse: an outbuilding used as a lavatory.“ Also ein Klohäuschen, ein Plumpsklo.)

Das griech. Wort, das hier für das Klo verwendet wird, ist in Texten eher selten, auch deshalb, weil Stuhlgang in der Dichtung meist kein Thema ist (die ältere Komödie einmal ausgenommen). Es findet sich hauptsächlich in Wörterbüchern der byzantinischen Zeit. Daneben einmal in einem Gesetzestext aus Kleinasien und in einem Fachbuch über Landwirtschaft.

Astynomengesetz von Pergamon

Auf der unteren Agora von Pergamon wurde eine längere Inschrift gefunden, die die Pflichten der Astynomoi, d.h. der Wege-, Wasser- und Gebäudepolizei beschreibt. Die Inschrift stammt der Schriftform nach aus der Zeit Trajans, der Text und seine Bestimmungen stammen laut W. Kolbe aber aus dem 2. Jh. v.Chr. Der Schluss des erhaltenen Textes lautet (OGI 483,220-223[3][4]):

Ἀφεδρώνων. οἱ ἀστυνόμοι ἐπιμέλειαν ποιείσθωσαν τῶν τε δημοσίων ἀφε[δρών]ων καὶ τῶν ἐξ αὐτῶν ὑπονόμων, καὶ [ἐάν τινες μὴ σ]τεγνοὶ ὑπάρχωσιν, καὶ τῶν --- Der Aborte. Die Stadtbeschützer (Polizisten, Ädilen) sollen Sorge tragen für die öffentlichen Aborte und die Kanäle aus ihnen, und [wenn einige nicht] überdeckt sind, und ihrer ---

Geoponika

In einem Sammelwerk über Landwirtschaft, das heute unter dem Titel Geoponiká „zum Landbau Gehöriges“ umläuft und das u.a. eine ältere Kompilation des byzantinischen Schriftstellers Cassianus Bassus (bzw. Kassianos Bassos, 6./7. Jh.) enthält, gibt es minutiöse Anweisungen zur Anlage der Oenothek (Weinlager, Weinkeller). Darin heißt es (Geopon. 6,2,8[5]):

κεχωρίσθαι δὲ δεῖ τὴν οἰνοθήκην καὶ ἀπὸ λάκκου, καὶ ἱπποστασίου, καὶ ἀφεδρῶνος, καὶ ἀχυρῶνος, καὶ ἀρτοκοπίου, καὶ βαλανείου. Das Weinlager muss getrennt sein auch von Zisterne (oder Senkgrube?) und Pferdestall und Abort und Spreuhaufen und Bäckerei und Bad.

Der engl. Übersetzer mag das Ding nicht beim Namen nennen und schreibt „from a recluse situation“[6] (recluse heißt „Einsiedler; einsam, abgeschieden“). Sehr blumige Umschreibung für ein Scheißhaus. Es geht offenbar darum, die Pithoi (Weinfässer) von üblen Gerüchen fern zu halten.

Hesych

Im Lexikon des Hesych, eines Lexikographen aus frühbyzantinischer Zeit (5. Jh.?), das nur in einer einzigen Handschrift (Marc. Gr. 622) überliefert ist und eine umfangreiche Liste eigentümlicher und seltener Wörter und Wortformen darstellt, heißt es[7][8]):

ἀφ’ ἑδρῶν.....· σέλλαι, σελλάρια, σωτήρια, ἀναγκαῖα. von Sitzen: Sitze, Sesseln, „Rettungen“, Notwendiges (d.h. Notdurft).

Offenbar ist in der Handschrift eine Lücke. Marcus Musurus, der Herausgeber der editio princeps, füllte sie mit ἀφεδρῶνες (also dem Plural). Das Lemma gehört mutmaßlich nicht zum ursprünglichen Textbestand, sondern ist einer späteren Bearbeitung geschuldet, bei der Wörter aus christlichen Texten hinzugefügt wurden.

Die Erklärung wird durch zwei lat. Wörter (sella, sellarium) und zwei Umschreibungen gegeben: ein Ort, an dem man sitzt und der eine Rettung / Befreiung bringt.

Anecdota Graeca

In einem antiken Lexikon („Sammlung nützlicher Wörter aus verschiedenen Weisen und vielen Rednern“), das von Immanuel Bekker in seinen Anecdota Graeca herausgegeben wurde (und das vielleicht ein Auszug aus dem Hesych ist?), wird genauso erklärt[9]:

Ἀφεδρών: αἱ σέλλαι, σελλάρια, σωτήρια. Aphedrṓn: die Sitze, Sesseln, Klos („Rettungen“).

Suda

Die Suda ist ein umfangreiches byzantinisches Lexikon des 10. Jh. Darin heißt es zu unserem Wort:[10][11]

Ἀπόπατον καὶ κοπρῶνα λέγουσιν. ὁ δ’ ἀφεδρὼν καὶ λυτρώνων [Bekker: λυτρὼν] βάρβαρα. Apópatos („Kot; Abtritt“) nennt man auch einen Abort (od. Misthaufen). Der Aphedrṓn und Lytrṓn(ōn) (sind) vulgär (roh, ungebildet).
Ἀφ’ ἑδρῶν: ἀπὸ τῶν ἑδρῶν. ἕδραι γὰρ λέγονται αἱ σέλλαι, σελλάρια, σωτήρια. ἔστι δὲ καὶ εὐθεῖα ὁ ἀφεδρών, καὶ σημαίνει τὸ μέρος τοῦ σώματος τὸ περὶ τὴν ἔξοδον. ὅτι ὁ ἀφεδρὼν καὶ λυτρώνων βάρβαρα. von Sitzen: von den Sitzen. Sitze werden nämlich die Sitze, Sesseln, Klos („Rettungen“) genannt. Es gibt auch einen Nominativ der Aphedrṓn, und er bezeichnet den Teil des Körpers um den Ausgang herum. Denn der Aphedrṓn und Lytrṓn(ōn) sind vulgär.

Da ist es: das Arschloch, halt bildungssprachlich umschrieben. Allerdings scheint das der einzige Beleg für die Gleichung Aphedrṓn = „Culus, Anus“ zu sein. Ansonsten heißt es „d. Abort“ (Bauer5), „Abtritt“ (Menge), „Abtritt, Kloake“ (Pape), „Klosett, Abort“ (Gemoll10), engl. „privy“ (Lidell/Scott/Jones). In byzantinischer Zeit galt das Wort offenbar als unfein.

Etymologicum Gudianum

Das sog. Etymologicum Gudianum, ein Wörterbuch der byzantinischen Zeit (ca. 11. Jh.), erklärt s.v.[12]:

ὁ Ἀφεδρών καὶ ἡ ἄφεδρος· παρὰ τὴν ἀπό πρόθεσιν καὶ τοῦ ἕδρα γίνεται ἀποέδρα καὶ ἀφέδρα ἀφεδρών, καὶ σημαίνει καὶ τὸ[ν] κῶλον καὶ τὴν ἀκαθαρσίαν τῆς γυναικός, ὅταν τὰ ἔμμηνα αὐτῆς ἐκρεῖ, 〈ἣ〉 καὶ λέγεται ἄφεδρος. der Aphedrṓn („Abort, Klo“) und die Áphedros („Menstruation“): von der Präposition apó („von, ab-“) und dem (Wort) hédra („Sitz“) stammt apoédra und aphédra, aphedrṓn und bezeichnet auch den Leib und die Unreinheit der Frau, wenn ihr Monatliches ausfließt, was auch áphedros genannt wird.

Die beiden Wörter sind verschiedene Bildungen derselben Wurzel und bezeichnen das abseits Sitzen bzw. den Ort dazu. (Während der Menstruation saßen die Frauen getrennt von den anderen, weil ihre Berührung unrein machte, s. Lev 15,19.)

Fazit

Man isst, verdaut und geht aufs Klo. So ist das mit dem Menschen. Und wo es zur Sprache kommen musste, konnten die Evangelisten anders als die meisten deutschen Übersetzer das auch ohne falsche Scham und ohne bildungsbürgerliche Attitüde sagen. Wörter wie Scheißhaus und Arschloch sind nicht per se unchristlich. Es sind einfach nur Wörter. Dass Turrini einige Politiker als Arschlöcher tituliert hat, ist eine heftige und deftige Kritik ihres Verhaltens, die er sehr ausführlich begründet hat. Ich finde es befremdlich, dass sich manche Frommen mehr an Turrinis Wortwahl als an dem abscheulichen Tun der von ihm Kritisierten stoßen. Sie gleichen darin den Pharisäern, die sich an den ungewaschenen Händen der Jünger stießen.

  1. Peter Turrini über Ozonlöcher, Arschlöcher und Türkisblau (Rede im SPÖ-Parlamentsklub am 30. Okt. 2018). Falter Radio
  2. Kritik nach Auftritt von Sebastian Kurz bei religiösem Großevent in Wien. OÖN 17. Juni 2019
  3. Orientis Graeci inscriptiones selectae. Supplementum sylloges inscriptionum Graecarum. Hrsg. v. Wilhelm Dittenberger. Bd. 2.– Leipzig: Hirzel, 1905. S. 105
  4. Prott, H. v.; Kolbe, W.: „Die 1900-1901 in Pergamon gefundenen Inschriften“, Mitteilungen d. kaiserl. dt. archaeolog. Inst., athen. Abt., 27 (1902) S. 47-77
  5. Geoponica sive Cassiani Bassi scholastici De re rustica eclogae. Hrsg. v. Heinrich Beckh.– Leipzig: Teubner, 1895. S. 172
  6. Γεωπονικά. Agricultural pursuits. A. d. Griech. v. T. Owen. Bd. 1.– London[: Eigenverl.?] , 1805. S. 196
  7. Hesychii Alexandrini lexicon pos Ioannem Albertum. Hrsg. v. Moritz Schmidt. Bd. 1.— Jena: Mauk, 1858. S. 333, Nr. 8587
  8. Hesychii Alexandrini lexicon. Editio minor.– 2. Aufl. Jena, 1867. S. 270, Nr. 74
  9. Anecdota Graeca. Hrsg. v. Immanuel Bekker. Bd. 1.– Berlin: Nauck, 1814. (Lexica Segueriana) S. 469, Z. 23
  10. Suidae lexicon. Hrsg. v. Ada Adler. Bd. 1.– Leipzig: Teubner, 1928. (Lexicographi Graeci, Bd. 1) S. 313, Nr. 3469 (ἀπόπατον); S. 427, Nr. 4574 (ἀφ’ ἑδρῶν)
  11. Suidae lexicon. Hrsg. v. Immanuel Bekker.– Berlin: Reimer, 1854. S. 151b (ἀπόπατον); S. 201b-202a (ἀφ’ ἑδρῶν)
  12. Etymologicum Gudianum quod vocatur. Hrsg v. Ed. Aloysius de Stefani. Bd. 1.– Amsterdam: Hakkert, 1965. S. 240, Z. 14-16

Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 15. Dez. 2022