Michael Neuhold Homepage
Startseite > Biblica > Das Ende der Apostelgeschichte und des Paulus

Das Ende der Apostelgeschichte und des Paulus


Nachdem der Autor der Apg (ich nenne ihn, der Tradition folgend, Lukas) acht Kapitel lang über die Gefangennahme des Paulus, seinen Prozess vor dem Prokurator Antonius Felix, die Fortsetzung des Prozesses unter dem neuen Prokurator Porcius Festus, seine appellatio ad Caesarem, den Schiffbruch auf seiner Reise nach Rom und schließlich seine Ankunft dort und seinen erfolglosen Versuch, die Juden Roms zu missionieren, berichtet hat, schließt er sein Werk mit den lapidaren Worten: „Er (Paulus) blieb volle zwei Jahre in seiner eigenen Mietwohnung, nahm alle auf, die zu ihm hineinkamen, wobei er das Reich Gottes verkündigte und (das) über den Herrn Jesus Christus mit allem Freimut ungehindert lehrte.“

Kein Wort über den weiteren Verlauf des Prozesses. Kein Wort darüber, ob Paulus nun verurteilt oder freigesprochen wurde. Ob er etwa nach Verlauf der zwei Jahre hingerichtet wurde oder nach Spanien ging, um dort zu missionieren (wie er es Röm 15,28 als seine Absicht erklärt hatte). Dieses abrupte Ende ist, gelinde gesagt, etwas verblüffend. Die Gelehrten haben eimerweise Tinte verschrieben und Theorien aufgestellt, wie dieser Sachverhalt zu erklären sei.

Im folgenden eine kurze Übersicht über einige immer wieder geäußerte Erklärungsversuche. Ihre jeweiligen Urheber und Anhänger entnehme man der unten aufgeführten Literatur.

Eine naheliegende Erklärung: Lukas hat mit diesem Schluss die Gegenwart erreicht. Er berichtet nichts über den weiteren Verlauf, weil dieser noch nicht stattgefunden hat. Demnach müsste die Apg etwa 62 n.Chr. fertiggestellt worden sein (die vielgeschmähte Frühdatierung des Werkes).
Wird von den Gelehrten unisono abgelehnt: die Apg setzt das LkEv voraus, das LkEv setzt das MkEv voraus, beide setzen die Eroberung Jerusalems im Jahre 70 voraus. Die gängige Lehrmeinung datiert die Apg an des Ende des vorletzten Jahrzehnts des ersten Jahrhunderts (sprich: gegen 90 n.Chr.). Ob ein Vers wie Lk 21,24 wirklich nicht vor 70 geschrieben worden sein kann, ob es also keine echte Prophetie, nur vaticinia ex eventu gibt, ist allerdings Ansichtssache.
Heute gängige Erklärung: mit der ungehinderten Verkündigung des Paulus in Rom ist das beabsichtigte Programm von Apg 1,8 („und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das äußerste Ende der Erde“) zu seinem Ziel gekommen.
Rom ist, selbst für einen Judäer, wohl kaum als das Ende der Erde zu betrachten. Apg 1,8 ist mit Kap. 28 noch nicht zu seiner Erfüllung gelangt. Und die christliche Botschaft war ja schon lange vor Paulus' Ankunft nach Rom gekommen.
Das ursprüngliche Ende der Apg wurde getilgt, um die Widersprüche zwischen Lukas' Darstellung und den hoch geschätzten apokryphen Paulusakten zu beseitigen.
Blanker Unsinn. Man konnte ja auch mit den Widersprüchen zwischen den Evangelien leben. Und dass man einer nicht-kanonischen Darstellung zuliebe ein bereits kanonisch gewordenes Werk änderte, halte ich für gänzlich unvorstellbar. Und es wäre auch nicht zu erklären, wieso von der älteren und vollständigen Fassung in der handschriftlichen Überlieferung nicht die kleinste Spur erhalten ist.
Der Tod hat Lukas an der Fertigstellung seines Werkes gehindert.
Apg 28,30f ist ein Summarium und jedenfalls der Schluss eines größeren Abschnittes. Es wirkt nicht, als sei Lukas mitten im Schreiben unterbrochen worden.
Die Papyrusrolle war zu Ende. Daher musste Lukas abbrechen.
Und weiterer Papyrus war nicht mehr aufzutreiben, oder wie?
Lukas standen keine Nachrichten über das weitere Schicksal des Paulus zur Verfügung.
Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass keine drei Jahrzehnte nach Paulus Tod keine Nachrichten darüber aufzutreiben waren. Insbes. da Lukas über die Jahrzehnte davor eine Menge an Details zu berichten weiß.
Lukas berichtet nur, wovon er Augenzeuge war. Da er den weiteren Verlauf nicht mehr selbst miterlebt hat, erzählt er auch nichts davon.
Ob der Autor der Apg wirklich Augenzeuge einiger der berichteten Ereignisse war, ist umstritten. Doch berichtet er (vor allem in der ersten Hälfte der Apg) eine Menge, wovon er sicher kein Augenzeuge war. Nichts hinderte ihn, auch den weiteren Verlauf darzustellen.
Lukas hatte geplant, einen dritten Bericht (nach LkEv und Apg) zu verfassen, in dem er über das weitere Schicksal des Paulus und der Kirche berichten wollte, er ist aber nicht mehr dazu gekommen.
Das wäre möglich. Es erklärt aber nicht, weshalb die Apg genau an dieser Stelle aufhört. Was rechtfertigte eine Zäsur, nachdem Paulus ganze zwei Jahre in Rom war?
Lukas verwendete bewusst ein offenes Ende, um seine Leser auf diese Weise aufzufordern, gleichsam die Apg mit ihrem eigenen Leben weiterzuschreiben, d.h. selber mit allem Freimut das Reich Gottes zu verkündigen.
Das ist viel zu modern gedacht. Ein offenes Ende galt in der Antike als literarisches Defizit. Und gerade das Martyrium des Paulus heischte nach theologischer oder heilsgeschichtlicher Deutung. Überdies hätte es einem beabsichtigen paränetischen Charakter der Apg keinen Abbruch getan, wenn Lukas über den Prozessausgang berichtet hätte.
Paulus wurde nach Verlauf der zwei Jahre hingerichtet. Diesen unersprießlichen Ausgang wollte Lukas seinen Lesern nicht zumuten. Als Beweggrund dafür wird ganz Unterschiedliches genannt.
Mit welcher juristischen Begründung hätte Paulus zum Tode verurteilt worden sein können? Vor der neronischen Christenverfolgung war Christsein noch kein Verbrechen. Was konnte man Paulus vorwerfen, wofür sich auch Zeugen hätten finden lassen, wenn schon Felix und Festus in Cäsarea keinen Grund fanden, Paulus zu verurteilen?
Lukas war ein Gegner der Verherrlichung des Martyriums, daher verschwieg er die Hinrichtung des Paulus.
Lukas hat aber etwa vom Martyrium des Stephanus (Apg 7,57-60) oder des Zebedäussohnes Jakobus (Apg 12,2) durchaus berichtet. Warum also nicht auch von dem des Paulus?
Verurteilung und Hinrichtung des Paulus waren geeignet, anti-römische Ressentiments zu wecken. Das wollte Lukas tunlichst vermeiden.
Die Darstellung der beiden Statthalter in Cäsarea ist auch nicht gerade sympathieerweckend. Apg 24,26.27b ist sogar eine deutliche Kritik an einem hohen römischen Beamten. Das Martyrium des Paulus hätte Lukas ja auch so darstellen können, dass er die Schuld allein dem Nero gab, den ja auch die Nichtchristen unter den Römern in nicht eben guter Erinnerung hatten.
Paulus war in Konflikt mit der Gemeinde von Rom geraten. Diese hatten daraufhin im Prozess gegen ihn ausgesagt oder sonstwie sein Todesurteil mitverschuldet. Das wollte Lukas lieber totschweigen.
Reine Mutmaßung und nicht eben wahrscheinlich.

Was das Schicksal des Paulus anlangt: ein Todesurteil vor Beginn der Verfolgungen unter Nero erscheint mir unwahrscheinlich. Felix und Festus haben die (juristisch gebotene) Freilassung des Paulus wohl deshalb hintertrieben, weil sie den offenen Konflikt mit den jüdischen Autoritäten wegen einer Belanglosigkeit (wie sie die Person des Paulus für sie darstellte) scheuten. Sie waren für einen ruhigen Verlauf ihrer Amtszeit auch auf das Goodwill der Hohenpriester und Sadduzäer angewiesen. In Rom war die Situation freilich eine andere. Es ist auch fraglich, ob die Hohenpriester Vertreter der Anklage zum Prozess nach Rom geschickt haben. Ein Freispruch erscheint mir daher wahrscheinlicher als eine Verurteilung.

Ausleger, die bei den Pastoralbriefen (1/2Tim, Tit) an der Autorschaft des Paulus festhalten, datieren diese meist auf die Zeit nach seiner Freilassung und sehen in ihnen einen Beleg dafür, dass Paulus nicht bereits am Ende der zwei Jahre hingerichtet wurde. 2Tim 4,13 würde dann zeigen, dass Paulus auch noch einmal im Osten war.

Andererseits berichtet die Überlieferung einstimmig vom Martyrium des Paulus in Rom. Doch so, dass angenommen wird, Paulus sei zunächst nach Spanien gereist und nach seiner Rückkehr nach Rom Opfer der neronischen Christenverfolgung geworden.

Der erste Clemensbrief ist ein Brief der Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth, in der es offenbar massive Konflikte gab. Im späten 2. Jh. wurde der Brief dem Bischof Clemens (88-97 n.Chr.) zugeschrieben. Der Brief ist wohl kurz vor 100 entstanden. Am Anfang werden die üblen Folgen von Eifersucht und Streit beschrieben, unter denen auch die Apostel wie Petrus und Paulus immer wieder zu leiden hatten. 1Clem 5,5-7:

5 Διὰ ζῆλον καὶ ἔριν Παῦλος ὑπομονῆς βραβεῖον ὑπέδειξεν, Wegen Eifersucht und Streit zeigte Paulus den Kampfpreis der Geduld.
6 ἑπτάκις δεσμὰ φορέσας, φυγαδευδείς, λιθασθείς, κῆρυξ γενόμενος ἔν τε τῇ ἀνατολῇ καὶ ἐν τῇ δύσει, τὸ γενναῖον τῆς πίστεως αὐτοῦ κλέος ἔλαβεν, Siebenmal Fesseln tragend, vertrieben, gesteinigt, Herold sowohl im Osten als auch im Westen, empfing er den wahren Ruhm seines Glaubens.
7 δικαιοσύνην διδάξας ὅλον τὸν κόσμον, καὶ ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως ἐλθὼν καὶ μαρτυρήσας ἐπὶ τῶν ἡγουμένων, οὕτως ἀπηλλάγη τοῦ κόσμου καὶ εἰς τὸν ἅγιον τόπον ἐπορεύθη, ὑπομονῆς γενόμενος μέγιστος ὑπογραμμός. Nachdem er die ganze Welt Gerechtigkeit gelehrt hatte und an die Grenze des Westens gekommen war und Zeugnis abgelegt hatte vor den Herrschern, ging er so weg (od.: wurde er fortgeschafft) aus der Welt und begab sich an den heiligen Ort, ein größtes Vorbild der Geduld geworden.

Die „Grenze des Westens“ ist – vor allem aus der Sicht eines Stadtrömers – wohl in Spanien zu sehen. Ob auf verklausulierte Weise angedeutet werden soll, dass Paulus als Märtyrer starb, ist nicht ganz klar, wird aber von vielen so verstanden.

Der sog. Canon Muratori besteht aus drei Blättern in grauenhaftem Latein, die vermutlich eine Übersetzung eines griech. Originals sind, das wiederum aus dem letzten Drittel des 2. Jh. stammt. Inhaltlich ist es eine Auflistung ntl. Bücher. Auf dem zweiten Blatt heißt es in Z. 4-8 (in halbwegs korrektes Latein gebracht):

[4] Lucas „optimo Theo[5]philo“ comprehendit, quae sub praesentia eius singula [6] gerebantur, Lukas fasste für den „besten Theophilus“ zusammen, was in seiner Gegenwart im einzelnen geschehen ist,
sicut et semota passione Petri [7] evidenter declarat, wie er auch durch das Weglassen des Martyriums des Petrus augenscheinlich klar macht,
sed et profectione Pauli ab ur[8]be ad Spaniam proficiscentis. aber auch durch (das Weglassen) der Abreise des Paulus, der von Rom nach Spanien aufbrach.

[4] optimo Theophilo: Hs. obtime theofile, könnte auch als wörtl. Zitat von Lk 1,3 verstanden werden. Aber wie wäre es dann in den Satzzusammenhang einzubinden?
[5] quae: Hs. quia
[6] semota: Hs. semote
[6] passione, [7] profectione: Hs. passionē, profectionē, d.h. -em, doch ist der Akk. syntaktisch schwer unterzubringen.

Hier finden wir erstmals die oben genannte Theorie, Lukas habe über das weitere Schicksal des Paulus (hier in Gestalt seiner Spanienreise) deshalb nicht berichtet, da er nicht selbst dabei war. Die Spanienreise wird aber als Faktum vorausgesetzt.

Die apokryphen Paulusakten sind nur fragmentarisch überliefert. Nach dem Zeugnis des Tertullian (De baptismo 17) wurde es von einem kleinasiatischen Presbyter verfasst, und zwar wohl noch im 2. Jh. Es ist zwar nicht nachgerade häretisch, aber doch bedenklich asketisch-enkratitisch. In dem als separates Werk überlieferten Martyrium des Paulus wird von der neronischen Christenverfolgung und der Enthauptung des Paulus erzählt. Nero missfällt, dass immer mehr Menschen an seinem Hof einem anderen König dienen, dem „König der Ewigkeit“. Daher befiehlt er, dass die „Soldaten des großen Königs“ gesucht und getötet werden sollen. So wird auch Paulus gefangengenommen und nach einem Wortwechsel mit dem Kaiser zum Tode durch Enthaupten verurteilt.

Τότε σταθεὶς ὁ Παῦλος κατέναντι πρὸς ἀνατολὰς καὶ ἐπάρας τὰς χεῖρας εἰς τὸν οὐρανὸν προσεύξατο ἐπὶ πολύ· Dann trat Paulus gegen Osten hin und erhob seine Hände zum Himmel und betete lange.
καὶ κατὰ προσευχὴν κοινολογησάμενος ἑβραϊστὶ τοῖς πατράσιν, προέτεινεν τὸν τράχηλον μηκέτι λαλήσας. Und nachdem er sich im Gebet auf Hebräisch mit den Vätern unterredet hatte, hielt er den Nacken hin, ohne noch weiter zu reden.
ὡς δὲ ἀπετίναξεν αὐτοῦ ὁ σπεκουλάτωρ τὴν κεφαλήν, γάλα ἐπύτισεν εἰς τοὺς χιτῶνας τοῦ στρατιώτου. Als aber der Scharfrichter seinen Kopf abschlug, spritzte Milch auf die Kleider des Soldaten.
ὁ δὲ στρατιώτης καὶ πάντες οἱ παρεστῶτες ἰδόντες ἐθαύμασαν καὶ ἐδόξαζον τὸν θεὸν τὸν δόντα Παύλῳ δόξαν τοιαύτην· Als der Soldat und alle, die dabeistanden, es sahen, wunderten sie sich und priesen Gott, der dem Paulus solche Ehre gegeben hatte.
καὶ ἀπελθόντες ἀπήγγειλαν τῷ Καίσαρι τὰ γεγονότα. Und sie gingen weg und berichteten dem Kaiser, was geschehen war.

Was die Paulusakten über die Missionsreisen des Paulus erzählen, lässt sich nur schwer mit der Apg in Deckung bringen. Die lange Thekla-Episode ist eher als antiker Roman denn als historischer Bericht zu werten. Ihre ehe- und sexualfeindliche Ausrichtung ist mehr als bedenklich. Sie zeigt aber gut die eskapistische Stimmung, die Teile der Kirche erfasst hatte. Auch das Martyrium des Paulus beruht wohl auf freier Ausgestaltung dessen, was der Überlieferung als gewiss galt: dass Paulus in der neronischen Verfolgung enthauptet wurde.

Doch kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass diese Tradition historisch unzutreffend ist und dass Paulus erst später und/oder unter ganz anderen Umständen ums Leben gekommen ist. Auch ein natürlicher Tod wäre denkbar. Schließlich hatte Paulus vermutlich bereits die fünfzig überschritten, als er nach Rom kam.

Zwischen 2002 und 2006 wurden in der Kirche San Paolo fuori le mura in Rom Grabungsarbeiten durchgeführt. Dabei wurde unter einem Grabdenkmal mit der Inschrift Paulo Apostolo Mart[yri] „dem Apostel Paulus, Märtyrer“ ein großer Sarkophag entdeckt. Der Vatikan hält offenbar dafür, dass die darin befindlichen Gebeine tatsächlich dem Heidenapostel gehören.


Autor: Michael Neuhold (E-Mail-Kontakt)
Letzte Aktualisierung: 16. Dez. 2018